Je länger, je lieber - Roman
rundheraus gesagt: »Ich weiß nicht, wo mir der Kopf steht. Ich bin so durcheinander.« Und sie hatte zu ihrer eigenen Überraschung geantwortet: »Ich vermisse dich, obwohl ich so wütend auf dich bin.« Und er hatte gesagt: »Ich komme zu dir hin.« Und sie hatte gesagt: »Das ist aber in Barcelona.«
Für einen Augenblick war es am anderen Ende der Leitung still gewesen. Als er seine Sprache wieder gefunden hatte, hatte er gestottert: »Bleib, wo du bist. Ich bin gleich da!«
Kurz darauf hatte er sich noch einmal gemeldet und durchgegeben, dass es wegen des Streiks einfacher sei, nach Marseille zu fliegen. Von hier aus würden sie gemeinsam weiter nach Arles fahren. Und wenn René tatsächlich gleich aus dieser Glastür trat, würde er sie zu Jacques Barreto begleiten müssen.
Plötzlich gerieten die wartenden Leute um sie herum in Bewegung und nährten sich dem Ausgang, aus dem nun die ersten Reisenden mit ihren Rollkoffern strömten. Die meisten von ihnen sahen sich suchend um, bis sie ihre Liebsten in der Wartehalle entdeckt hatten. Dann beschleunigten sie noch einmal ihre Schritte, um sie glücklich in die Arme zu schließen. Väter, die von ihren Familien abgeholt wurden, Mädchen von ihren Freunden, Frauen von ihren Männern. Mimi stellte sich auf die Zehenspitzen und versuchte, einen Blick hinter die gläsernen Schiebetüren zu erhaschen. Dahinter spuckte das Gepäckband noch immer Koffer aus. Noch immer standen einige Reisende drum herum – nur René konnte sie nirgends entdecken. Was, wenn er doch nicht geflogen war? Hätte er sie dann nicht angerufen?
Die Schiebetür öffnete sich erneut. Und da war ihr Mann. Ein erleichtertes Lächeln huschte über sein Gesicht, als er sie sah. Er hatte sich den Gurt seiner Reisetasche über die Schulter gehängt. Ausnahmsweise trug er nicht wie sonst einen seiner Anzüge, sondern ein Hemd und Jeans. Wie einer, der Urlaub machen wollte. Wie lange waren sie schon nicht mehr gemeinsam am Flughafen gewesen? Wann hatte zum letzten Mal einer von ihnen den anderen abgeholt? Das musste Jahre her sein. Mimi spürte, wie sich ihre Pupillen vor Aufregung weiteten. Renés Schritte wurden schneller. Sie blieb reglos stehen. Sie schaffte es nicht, sich auch nur einen Millimeter zu rühren. Das war also der Mann, in den sie sich auf den ersten Blick bei einer Kunsthochschulparty verliebt hatte, auf die er sich als Medizinstudent geschlichen hatte. Das war der Mann, den sie als junge Frau aus Sehnsucht nach einem Zuhause geheiratet hatte. Und doch kam es ihr so vor, als würde sie einen Geschäftspartner empfangen, mit dem sie bisher erfolgreich zusammengearbeitet hatte. Mit dem sie sich nun über zukünftige Projekte austauschen würde, die an den alten Erfolg anschließen sollten. Als er vor ihr stand, ließ er den Riemen seiner Reisetasche von der Schulter rutschen und das Gepäck einfach auf den Boden plumpsen.
»Hallo.« Er ließ die Arme hängen und zwinkerte nervös. »Wie geht es dir?«
»Ich weiß nicht.« Mimi räusperte sich. »Wie geht es dir?«
Er zuckte mit den Schultern. »Ich habe Angst, dich zu verlieren.« Er holte tief Luft und nickte, als würde das irgendwie helfen. »Ich habe alles kaputt gemacht.«
»Ja, das hast du.« Mimi nickte nun auch und sah ihm fest in die Augen. »Ich hätte nie gedacht, dass wir einmal wie zwei Fremde voreinander stehen, die nicht wissen, wie sie weitermachen sollen.« Sie schluckte, und die Tränen liefen ihr über die Wangen. Und es war entsetzlich zu sehen, dass René nun auch weinte. Sie beide standen am Flughafen und weinten. Obwohl Mimi es überhaupt nicht wollte, ließ sie sich an seine Brust sinken und von ihm fest umarmen. Sie fühlte seinen heißen Atem an ihrem Ohr. Wie konnte sie sich von dem Mann halten lassen, der für diesen Albtraum verantwortlich war? Um noch einmal ganz von vorn anzufangen, blieb ihr nichts anderes übrig, als ihm jetzt ihren gesamten Schmerz, ihre Enttäuschung zu zeigen. Es war ein Weinen um all das, was sie in ihrem Leben verloren hatte. Sie weinte um ihre Kindheit. Sie weinte um ihre Eltern, um ihre Trauer, um ihre Liebe und ihre Ehe. Sie weinte um sich, und sie weinte darum, dass sie so lange nicht hatte weinen können. Seine Hände strichen sanft über ihren Rücken. Sie hörte ihn flüstern: »Verzeih mir. Bitte verzeih mir. Ich habe dir Schreckliches angetan. Ich liebe dich.«
Ihr ganzer Körper zitterte, während die Reisenden um sie herum fröhlich waren und französische
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