Je mehr ich dir gebe (German Edition)
flüstert ihr Julia zu. Herr Lambosi mag nicht, wenn sie während der Übungen reden.
»Erzähl ich dir später!«, flüstert sie zurück.
Helen hat sich verändert, vorher hatte sie lange, glatte Haare und jetzt hat sie einen Stufenschnitt und ist anders geschminkt. Man sieht nicht genau, was sie auf den Augen hat, keinen schimmernden Lidschatten jedenfalls, irgendwie sieht es wie Rouge aus. Raffiniert. Ihr Blick verrät Julia, dass sie es schon erfahren hat, das mit dem Unfall. So was spricht sich rum. Vor drei Monaten lebte Julia in einer ganz anderen Welt. Da hat Jonas sie noch mit dem Motorrad vom Schauspielunterricht abgeholt.
Jetzt bewegen sie sich durch den ganzen Raum. Seid präsent! Julia, wieso sehe ich dich nicht? Sie kommt aus ihren Gedanken zurück auf die Bühne. Ja, gut, zeig dich! Herr Lambosi sieht sofort, wenn jemand »abwesend« ist.
Nach der Aufwärmübung verteilt er Situationszettel für die erste Szene. Auf ihrem Zettel steht: Eine junge Frau, 20, steht an der Bushaltestelle Urbanstraße, Ecke Bärwaldstraße, ruft gerade ihren Freund auf dem Handy an. Sie ist auf dem Weg in ein Geschäft, um ein Kleid umzutauschen, das ihr zu groß ist.
Zehn Minuten Zeit, sich in die Rolle zu versetzen. Und dann noch mal zehn Minuten, sie aufzuführen. Julia sieht sich an der Bushaltestelle stehen, in der einen Hand eine Plastiktüte, in der anderen Hand ihr Handy. Sie hat Jonas’ Nummer als erste Nummer gespeichert, tippt aufs Display, es klingelt und klingelt und eine Frau nimmt ab.
»Hallo?«
Julia sagt nichts. Ihr springt das Herz in den Hals.
»Hallo?«, sagt die Frauenstimme noch einmal. »Wer ist da?«
»Wer ist denn da?«, sagt Julia.
»Schwester Petra«, sagt die Frau.
Ihr fällt das Handy aus der Hand. Helen, die ihr schräg gegenübersitzt, schaut auf, bückt sich nach dem Handy und gibt es Julia zurück. Julias Finger zittern. Sie möchte aufspringen, wegrennen, es ist, als wäre sie eingesperrt und müsse hier raus. Es gibt auch keine Luft mehr zum Atmen, ihre Beine sind weich. Sturm fegt durch sie hindurch und zerzaust ihr das Herz. Julia versucht, gleichmäßig zu atmen, ein und aus – ein und aus –, langsam geht es ihr besser.
»Möchtest du einen Schluck Wasser?«, fragt Helen und hält ihr eine Wasserflasche hin.
Julia hat den größten Fehler begangen, den man beim Schauspielen überhaupt begehen kann, sie hat ihre eigenen Probleme mitgebracht und in die Szene einfließen lassen. Die muss man jedoch vorher abgeben, wie den Mantel an einer Garderobe. Die Frau an der Bushaltestelle ist nicht sie, sondern eine andere Frau, schon 20 – und nicht 17 wie Julia! Und wenn sich eine Frau am Handy ihres Freundes meldet, dann ist das nicht Schwester Petra, sondern … sondern …
Julia lässt sich kaltes Wasser über den Puls laufen. Ihr fällt nichts ein. Ihr Gehirn ist aus Glas. Helen lächelt ihr schüchtern zu. Kaum hatte Julia sich mit ihr angefreundet, ging sie nach München. Nun ist sie wieder da. Und Jonas ist weg. Was soll sie Helen erzählen? Was will sie hören?
Helen geht auf die Toilette. Julia steht immer noch am Waschbecken. Das kalte Wasser auf ihren Handgelenken tut gut. Sie schaut in den Spiegel, sieht sich und hinter sich Helen aus der Kabine kommen. Sie macht Helen Platz, trocknet sich die Hände ab. – Es steht jemand hinter ihr. Sie dreht sich um. – Nein, da ist niemand. Helen hat sich auch umgedreht und geguckt. Hat sie es auch gespürt?
»Kannst du wieder reingehen?«, fragt sie. »Bist du okay?«
Sie ziehen Nummern, wer als Erster mit seiner Aufführung dran ist. Max Klein, ein 15-Jähriger, der voll auf Action abfährt, fängt an. Er schafft es, aus seiner Vorgabe einen Kurzkrimi zu machen, mit drei Toten. Dann ist Julia an der Reihe.
Sie steht an der Bushaltestelle, wählt eine Nummer, sagt: »Hi Markus, hier ist Simone. Du hör mal, ich bin gerade auf dem Weg, ein Kleid umzutauschen, und jetzt finde ich den Bon nicht. Der ist bestimmt bei dir, noch in der Plastiktüte …« Und dann entfacht sie einen Streit, weil Max die Tüte nicht findet und sie anmeckert, dass sie besser auf ihre Sachen aufpassen soll.
»Gut gemacht«, sagt Herr Lambosi. »Und immer schön alles ausspielen. Die Details sind wichtig, der Alltag ist wichtig. Das Große passiert selten, auch nicht in Filmen.« Er schaut sie an, weiß, dass ihr »das Große« passiert ist.
Nach dem Unterricht geht Julia mit Helen über die Straße, es tut gut, zu plaudern. »Hast du ihn
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