Je mehr ich dir gebe (German Edition)
denn schon wiedergesehen?«, fragt Julia.
»Wen?«
»Na den Typen von der Party.«
»Welche Party?«
Julia muss noch ein bisschen nachhelfen, bevor Helen sich erinnert. – Damals, in Berlin.
»Ach der. Nee. Das ist ja schon so lange her! Aber ich habe in München jetzt einen Freund.« Helen fängt an, von ihm zu schwärmen. »Er will mich am Wochenende besuchen.« Julia merkt, dass Helen ihr nicht zu viel vorschwärmen will. Das ist rücksichtsvoll, aber unnötig. Sie muss nicht geschont werden, Julia freut sich für sie, weiß doch noch genau, wie traurig Helen wegen dem anderen war, als sie ihn in Berlin zurücklassen musste. Und jetzt ist er schon vergessen. Julia ertappt sich dabei, zu denken, dass er ja dann auch hätte sterben können, statt Jonas.
»Hast du Lust, noch mit zu mir zu kommen?«, fragt Helen.
»Nein«, sagt Julia sofort. Sie schämt sich, so was gedacht zu haben. »Heute Abend kann ich leider nicht.« Dabei würde sie gern zu Helen gehen. Aber sie ist schon mit Kolja verabredet. Nachher wird sie zu ihm gehen, sie werden vielleicht einen Joint rauchen und miteinander schlafen. Das wollte Kolja schon die letzten Tage so. Er ist sich sicher, dass sie entspannter ist, wenn sie einen Joint raucht. So komme sie Jonas noch näher. Es war tatsächlich berauschend – im wahrsten Sinne des Wortes, als sie mit Jonas was geraucht hatte. Die Badewanne wurde zu einem Raumschiff, das zwischen Erde und Mond schwebte, und sie beide mittendrin, in der Schwerelosigkeit. Aber kann man so was wiederholen?
Julia schaut auf die Uhr. »Ich muss los. Ich ruf dich an, ja?«
»Ja«, sagt Helen und drückt sie fest. »Es tut mir echt leid, was passiert ist.«
»Ist schon gut«, sagt Julia. – Was soll sie sonst schon sagen?
Dann steht sie an der Bushaltestelle und fischt ihr Handy aus der Tasche. Kolja hat zweimal angerufen, aber keine Nachricht hinterlassen. Jonas’ Nummer ist immer noch gespeichert. Wo wohl sein Handy ist?
Sie ruft ihn an. Dabei bleibt ihr der Atem im Halse stecken wie ein zähes Stück Fleisch. Es klingelt ins Leere. Dann kommt der Bus.
Zu Hause hat Mama Brötchen gebacken, das ganze Haus riecht danach. Julia geht in die Küche, nimmt sich eins. Außen knusprig, innen weich.
»Isst du mit uns?«, fragt Mama und stellt Streichkäse auf den Tisch, getrocknete Tomaten, Oliven. »Papa kommt auch gleich.«
Es ist wie früher, Vater, Mutter, Kind – und die Abendsonne scheint auf den Küchentisch.
»Kolja hat angerufen«, sagt Mama. »Er wollte wissen, wo du bist.«
Julia hört in ihrem Ton, dass sie wissen will, ob sie jetzt mit Kolja zusammen ist. Und vor allem, wie zusammen. Sonst hat Julia ihr immer von ihren Freunden erzählt. Von Kolja so gut wie nichts. Außer, dass er nett sei, ein guter Freund von Jonas. Julia ignoriert Mamas nicht ausgesprochene Frage. Sie ignoriert auch ihren Blick, diesen prüfenden Mamablick: Wie geht es meinem Kind?
Sie ist kein Kind mehr. Und wieso will Kolja wissen, wo sie nachmittags ist? Sie sind doch erst für den Abend verabredet.
»Was hat er denn gesagt?«
»Er bittet um Rückruf.« Mama stellt eine Flasche Wasser auf den Tisch und schmunzelt. »Hat sich ganz dringend angehört. Wo brennt’s denn?«
Julia verdreht die Augen und schmiert sich ein Brot.
»Da scheinst du ja jemandem total den Kopf verdreht zu haben.«
»Ach Quatsch!«, sagt Julia, viel zu laut.
Nach dem Abendbrot mit ihren Eltern geht sie in ihr Zimmer und legt sich aufs Bett. Das Fenster steht offen, der Wind streift durch die Baumwipfel, eine Amsel singt. Sie will Kolja nicht sofort zurückrufen. Sie schließt die Augen und sieht sich auf einer Bühne stehen, rezitieren, gestikulieren – pass auf, dass du die letzten Silben nicht verschluckst . – Die letzten Silben, schwirrt es ihr durch den Kopf, die letzten Silben … Wie sich das anhört.
Ein frischer Wind kommt durch das offene Fenster. Ach, käme Jonas doch nur zu ihr! Alles zieht und zerrt in ihr, vor Sehnsucht nach IHM. Irgendwie ist es in den letzten Tagen wieder schlimmer geworden. Vielleicht heilt die Zeit ja gar keine Wunden.
Die Ferien gehen so überraschend zu Ende, wie sie gekommen sind. Übermorgen fängt der Workshop an – drei Tage hintereinander. Vielleicht sollte sie heute zu Hause bleiben, gar nicht zu Kolja gehen. Marihuana rauchen ist eine sehr private Angelegenheit. Die wenigen Male, wo sie mit Jonas was geraucht hatte und sie sich dann geliebt hatten, war die Auflösung aller Grenzen,
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