Je mehr ich dir gebe (German Edition)
auf einen Mann los und haben ihm mit einem Schnabelhieb eine Platzwunde am Kopf zugefügt. Der Mann musste sofort ins Krankenhaus. Julia schaut den Krähen hinterher. Im Gehen schaltet sie ihr Handy ein, zwei neue SMS, beide von Kolja: Julia, geht es dir gut? – 1000 Küsse, Kolja – Ich vermisse dich! Und in der zweiten sind auch noch mal 1001 Küsse von ihm. Außerdem gibt es eine neue Nachricht von ihm auf der Mailbox: »Hallo, meine Süße, wo bist du nur? Ich kann dich nicht erreichen. Ruf mich bitte an! Ich wollte dich was fragen. – Und dir sagen, dass du die Schönste aller Schönsten bist! Kolja«
Julia will jetzt aber nicht anrufen. Auch keine SMS schicken. Kolja tut ja so, als hätten sie sich Jahre nicht gesehen. Dabei war sie gestern Abend noch bei ihm. Sie hört die Nachricht auf der Mailbox noch mal ab. Sie mag, wie er spricht, leise, aber bestimmt: »… dass du die Schönste aller Schönsten bist!«
Seine Komplimente werden immer überschwänglicher. Ja, er ist ein Charmeur, da hat Charly recht, aber ein süßer. Doch wenn Charly ihn einen Charmeur nennt, klingt das abwertend. Zum Glück haben sie sich gestern Nachmittag wieder vertragen. Charly hat bei ihr angerufen und gesagt, sie halte diesen blöden Streit nicht länger aus. Und sie habe auch wirklich nicht gemeint, Julia hätte einen an der Klatsche. Nur …
»Schwamm drüber«, hat Julia gesagt und ihr das Wort abgeschnitten, um Charly zuvorzukommen, denn »Schwamm drüber« ist eigentlich ihr Spruch.
»Aber …?«, wollte Charly noch mal nachhaken.
»Aber nichts«, hatte Julia dann gesagt. »Alles gut. Okay?«
Julia findet eine freie Bank, setzt sich einen Moment, stellt ihr Handy aus. Sie braucht eine kleine Pause, bevor sie nach Hause geht, will einfach hier in Ruhe sitzen und durch die Gegend schauen.
Im Dezember wird sie 18. Ein neuer Lebensabschnitt steht bevor, das letzte Schuljahr, Abitur – und der Führerschein. Nach Führerschein ist ihr gar nicht, erst recht nicht nach Motorradführerschein. Eigentlich wollte sie ihn in den Sommerferien machen, für Motorrad und Auto. Einmal hatte sie mit Jonas auf einem Lidl -Parkplatz in Neukölln geübt. Geil, so eine Maschine unter sich zu haben. Nun hat Papa sie wieder von der Fahrschule abgemeldet. Sie wollte das so. Niemals könnte sie sich jetzt auf ein Motorrad setzen, auch den Führerschein fürs Auto hat sie verschoben. Verkehrsregeln wollen jetzt nicht in ihren Kopf.
Es ist anstrengend genug, den Alltag auf die Reihe zu kriegen, und Kraft für die Vorbereitung zur Aufnahmeprüfung braucht sie auch. Manchmal kommt sie sich so vor, als sei sie ein Vogel, der in eine Ölpest geraten ist. Ihr Gefieder klebt zusammen und die Schritte wollen sich nicht vom Boden lösen. Obwohl, vorhin ging es ganz gut. Beim Sprechtraining musste sie sich so auf den Text und die Stimme konzentrieren, auf das richtige Atmen, da hat sie gar nichts denken können, nur genossen, dass Jonas ihr zuschaut. Jonas gehört zu ihr wie das Atmen, sie MUSS an ihn denken. Jeder Blick, jeder Gedanke – alles verbindet sie mit Jonas. Und nur, wenn sie ihm immer wieder näherkommen darf, kann sie das Leben ertragen. Ist es nicht so?
Jetzt fängt das Sehnen schon wieder an. Es zieht in ihr. Ihre Seele hat Hunger. Ein Mann von der Nebenbank steht auf und fragt, ob sie seinen Tagesspiegel haben will. Er schenkt ihn ihr. Julia blättert die Zeitung auf. –– Politik, Wetter, Karriere & Beruf. Todesanzeigen.
»Hey, Julia!«
Sie fährt zusammen. Anne steht vor ihr.
»Na, das ist ja ein Zufall. Dich wollte ich heute auch anrufen.«
»Es gibt keinen Zufall«, sagt Anne so überzeugend wie Charly, wenn sie einem erklärt, dass Gefühle nur biochemische Prozesse im Gehirn sind.
»Hast du mal eine Zigarette?«
»Nee. Hab ich nicht.«
Anne hat ein blaues Kleid an, die braunen Haare hochgesteckt. Sie sieht so fröhlich aus.
»Soll ich uns eine schnorren?«
»Ja«, sagt Julia. Sie hat plötzlich Heißhunger auf Rauch. Anne luchst zwei vorbeigehenden Typen Tabak ab. Sie tragen große, verspiegelte Sonnenbrillen und haben beide ein Beck’s in der Hand. Sie fragen, ob Anne und Julia nicht mitkommen wollen zum Rettungsschwimmer .
»Ihr meint wohl Freischwimmer , die Bar auf den Bootsstegen?« fragt Anne.
»Ja, genau die«, sagt der eine.
Anne lacht. »Wo kommt ihr denn her?«
»Wo kommen wir noch mal her?« Der Typ stößt seinen Kumpel an. Scheint nicht sein erstes Bier zu sein.
»Aus Bochum«, sagt der
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