Je mehr ich dir gebe (German Edition)
an. »Es ist viel zu anstrengend für sie, in so einer großen, lauten Stadt zu sein. Und wie wäre es mit einem Strandurlaub, in Andalusien oder Griechenland? Dann muss man auch nicht so lange fliegen und …«
Papa verdreht die Augen. »Wenn Julia nur am Strand rumliegt, kommt sie nie aus dem Grübeln raus. Sie braucht Ablenkung!«
»Am besten, du fragst sie selber, was sie braucht«, sagt Mama und schaut Julia eindringlich an.
»Wenn ich das wüsste …«, sagt Julia.
»Mädchen, nun lass doch nicht den Kopf so hängen. Die Trauerzeit muss auch irgendwann mal ein Ende haben. Ihr wart schließlich nicht 20 Jahre verheiratet.«
»Das hat doch damit nichts zu tun«, schimpft Mama.
»Doch«, behauptet Papa.
»Nein«, beharrt Mama. »Du verstehst einfach nichts von der Liebe.«
Papa stutzt. »So? Wovon verstehe ich denn was?«
»Nun streitet euch doch nicht«, sagt Julia. »Ich finde es ganz toll, dass Papa die Idee mit New York hatte. Vielleicht können wir nächstes Jahr nach New York fliegen. Jetzt möchte ich hier gar nicht weg und mich einfach nur ein bisschen ausruhen. Auch nicht nach Spanien oder Griechenland!«
»Ach Julia …!« Mama springt auf. Julia will nichts weiter hören. Sie weiß, dass ihre Mutter mit der Psychologin telefoniert hat und sie zu einem Termin überreden möchte. Julia räumt ihren Teller ab, sagt, sie brauchen sich keine Sorgen um sie zu machen, sie komme schon klar. Dass Papa wirklich keine Ahnung von Liebe hat, wenn er so was sagt, behält sie für sich. Sie will nicht nur Ruhe, sondern auch Frieden und so schnell wie möglich in ihr Zimmer.
Auf der Kommode ihr kleiner Altar. Sie zündet ein Räucherstäbchen an und eine Kerze, verreibt Rasierschaum auf ihrer Hand und schnuppert daran. Wäre es doch nur schon Montag! Sie muss unbedingt wissen, was »die andere Welt« ist und wie man von da aus in ihre Welt kommt. Oder umgekehrt. Außerdem hat sie Anne fest zugesagt, jetzt will sie es auch hinter sich bringen, so schnell wie möglich.
Sie zieht die oberste Schublade auf und nimmt das Briefkuvert mit den Fotoabzügen heraus. Ihre Finger zittern. Ihr ganzer Körper ist angespannt, als steckte sie in einer Rüstung, um den Schmerz abzuwehren, aber der Schmerz kommt von innen. Sie legt das Kuvert schnell wieder zurück. Vielleicht bekommt sie von dieser Sitzung Kraft, um sich endlich Jonas’ Fotos anzuschauen.
Julia fährt den Computer hoch, die Mail von Anne ist schon da, mit der Adresse: Bleibtreustraße 13, Hinterhaus, vierter Stock, bei K. Matuschke zweimal kurz hintereinander klingeln.
»Matuschke, Matuschke«, murmelt sie. »Hört sich ja nicht gerade Englisch an.« Dann klopft es an ihrer Tür.
Julia fährt herum. Die Tür geht auf. – Kolja.
Julia fasst sich ans Herz. »Hab ich mich jetzt erschrocken!«
»Ach, Süße, das wollte ich nicht.« Er kommt mit offenen Armen auf sie zu. Sie steht auf, sinkt in seine Arme, legt ihren Kopf an seinen Hals. Wie gut er riecht! Sie schließt die Augen. Er spielt mit einer Haarsträhne von ihr. »Meine kleine Julia«, flüstert er. »Ich dachte, ich komme kurz vorbei, weil ich eh in der Nähe war. Wollen wir was machen, etwas rausgehen?«
»Ja«, sagt sie. »Auf den Kreuzberg.«
»Okay. Ich habe eine Decke im Auto. Wir könnten uns ein paar Bier holen.«
»Ich möchte lieber ein Eis.«
»Okay, dann ein Eis.«
Seine Stimme klingt erleichtert, als hätte er ein großes Problem gelöst. »Wir können an der Tanke Eis kaufen.«
»Ist was?«, fragt Julia.
»Ja«, sagt er. »Ich liebe dich.«
Sie lächelt, kann nichts erwidern. Wie euphorisch Kolja ist!
Auf dem Kreuzberg breiten sie die Decke auf der Wiese vor dem Denkmal aus. Es sind viele Leute da, liegen auf der Wiese, essen, quatschen, lachen. Langsam wird es dunkel. Man kann schon ein paar Sterne sehen. Es ist, als blinzelten die Sterne Julia zu. Kolja streichelt ihren Nacken, den Rücken. Sie dreht sich zu ihm um und küsst ihn. Er schmeckt nach Jonas.
Kolja zieht ein kleines Schächtelchen aus der Hosentasche und reicht es ihr.
»Was ist das?«
»Mach es auf.« Seine Augen leuchten.
Sie schiebt die schwarze Hülle ab, faltet blaues Seidenpapier auseinander und zieht einen Ring heraus. Ein schmaler goldener Ring, mit drei glitzernden Steinchen.
»Es sind drei kleine Sterne«, flüstert Kolja, »für dich, für Jonas und für mich.« Er nimmt ihre linke Hand und streift ihr den Ring über. »Ein bisschen zu groß, aber man kann ihn anpassen lassen. Wir gehen
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