Je mehr ich dir gebe (German Edition)
zueinander ohne erkennbaren Zusammenhang. Und trotzdem treffen einen die Dialoge, die als scheinbar leere Worte zurückbleiben, mitten ins Herz – als hätte das Stück eine Seele. – Nur weil wir heute wissen, dass das Herz nicht der Sitz der Seele ist, sondern ein Muskel, der Blut durch unseren Körper pumpt, ist die Welt ja nicht weniger romantisch geworden – hört sie Charly. Romantisch ist Gier allerdings nicht, denn wie es schon im Klappentext auf ihrem Script steht: Alle vier Stimmen sind begierig aufs Leben, wobei keine weiß, ob die Liebe oder der Tod die ersehnte Rettung bringt – obwohl es am Ende ja heißt: »Ich bin glücklich und frei.« – Gut dass sie das nicht im Deutschunterricht analysieren muss. Analysen haben ihr schon die stärksten Texte entzaubert.
Julia lernt die Rolle der B, eine Liebeserklärung an eine nicht genannte Person – und das geht nur zu Hause, gleich, mit Jonas. Wenn sie spricht, spricht sie zu ihm und er hört ihr zu, das spürt sie genau. Und wenn sie dann bei Kolja ist, kommen ihr manchmal Zweifel, ob das alles so weitergehen kann, mit ihm und ihr und Jonas. Aber wenn Kolja sie küsst und auszieht und sie nackt vor ihm steht, er ihr die Augen verbindet und sie mit Früchten und Fingerspitzen berührt, mit der Zunge über ihren Körper flattert wie eine Libelle, dann werden alle Zweifel weggeweht, denn näher kann ihr Jonas gar nicht kommen, nicht mal in ihren Träumen.
»Julia, du träumst ja schon wieder.« Kolja steht vor ihr, mitten auf der Admiralsbrücke. Er nimmt ihre Hände, schaut auf den Ring. Die Diamanten funkeln.
»Kolja, sorry, aber ich möchte jetzt nach Hause. Ich muss auch noch was für die Schule einkaufen.« Dass sie sich später noch mit Charly trifft, muss sie ihm ja nicht unter die Nase reiben. Gleich um die Ecke, am Kanal, steht sein Auto. Er öffnet ihr die Beifahrertür und schließt sie hinter ihr. Dann erst steigt er ein, bringt sie schweren Herzens – man sieht es ihm an – nach Hause.
Es ist so schön ruhig in ihrem Zimmer. Friedlich. Warm. Das Fenster steht offen, auf dem Bett liegen ein paar Blätter von der Kastanie aus dem Hinterhof. Man spürt schon, dass der Sommer zu Ende geht. Sie mag gar nicht an den Herbst denken. In ein paar Tagen fängt die Schule wieder an. Auch daran mag sie gar nicht denken. Sie stellt sich vor den Spiegel und fängt an zu lesen. Sie weiß noch gar nicht genau, welche Passagen sie nehmen soll. Um 18 Uhr ist sie mit Charly verabredet, bei ihr. Sie steckt die Texte ein, möchte ihr gern was vorlesen. Julia will gerade zu ihr gehen, da klingelt es. Mama geht an die Tür, nimmt den Hörer der Gegensprechanlage und sagt: »Ja? – Fein!«, und drückt auf den Öffnungsknopf. Julia schwingt sich die Tasche über die Schulter und hört Stimmen auf dem Flur. Kolja. Er scherzt mit Mama, sie sagt, Julia sei in ihrem Zimmer, und dann klopft es schon kurz an ihrer angelehnten Tür, und bevor sie noch etwas sagen kann, fliegt die Tür schon auf. Kolja steht vor ihr.
»Wow! Siehst du gut aus!« Er betrachtet ihr schmal geschnittenes, beiges Etuikleid und die derben, nicht zugeschnürten Schuhe. Etwas später sitzt sie mit ihm im Auto und sie fahren über die Stadtautobahn, nach Lichterfelde-West, denn dort, in einer Villa, ist eine Nachmittags-Party von einem Kommilitonen, den Kolja sehr schätzt.
»Du wolltest doch unbedingt ein paar Leute von mir kennenlernen.«
»Ja, schon.« Aber ausgerechnet heute? Julia schaut aus dem Fenster. Das hatte sie tatsächlich schon öfter gesagt, weil sie, bis auf die Volleyball-Crew, die sich als »Nur-Bekannte« entpuppt haben, noch keine Freunde von ihm getroffen hat.
Die Stadt rauscht vorbei. Sie musste Charly absagen. »Zu deiner Freundin kannst du immer noch, aber die Party ist nur heute«, hatte Kolja gesagt und das leuchtet natürlich ein. Sie hat es genauso an Charly weitergegeben. Klar, dass Charly nicht begeistert war.
Auf der Party bleiben sie aber nicht lange. Kolja ist angespannt, schaut sie andauernd an, hat leuchtende Augen, aber er sagt nicht, was ihn bedrückt, er quatscht ein bisschen mit dem und dem, stellt allen seine Freundin Julia vor, und gerade als Julia mit zwei Studentinnen warm geworden ist, will Kolja gehen. Es ist noch nicht mal neun Uhr. Und schon sind sie wieder auf der Stadtautobahn und düsen in Richtung Neukölln.
»Warum hast du es denn so eilig?«
»Du bist so wahnsinnig schön! Und so sexy in diesem Kleid! Wenn du da mit
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