Je oller, je doller: So vergreisen Sie richtig (German Edition)
Alter!«-Alter
Preisfrage: Wenn Sie in der Bäckerei Wielpütz in Bonn-Endenich die Dame hinterm Tresen mit freundlicher Stimme fragen hören: »Was kann ich für Sie tun, junger Mann?« Wen wird sie damit wohl meinen?
A: Bill Kaulitz (22)
oder
B: Bill Mockridge (64)?
Abgesehen davon, dass Tokio-Hotel-Bill einen anderen Stammbäcker hat als ich (zum Glück, denn ich hab morgens beim Brötchenkauf keinen Nerv auf kreischende Teenies): Die meint tatsächlich mich . »Junger Mann«! Was soll denn das? Gut, das mit dem »Mann« stimmt, soweit ich das beurteilen kann, auch wenn ich in Biologie nie sonderlich aufgepasst habe. Aber was hat es auf sich mit dieser alterstechnisch äußerst fragwürdigen Spezifizierung » junger Mann«? Ist das Schmeichelei? Oder doch eher Gehässigkeit? Ich muss dann immer an meinen alten Freund Jeff aus Kindertagen denken: Der fing mit sechs Jahren im Garten eine dicke, schleimige Schnecke, die er sich fortan in einem Einmachglas hielt. Er taufte sie »Speedy«.
Ich fürchte, bei meiner Bäckereiverkäuferin greift in Sachen Namensgebung genau dieselbe Logik. Was mal wieder zeigt: Das mit dem Alter ist so eine Sache. Ich habe am eigenen Leib erfahren, dass wir im Laufe des Lebens drei Altersphasen durchlaufen: Da ist zunächst die Jugend. Schöne Zeit, wilde Zeit. Doch irgendwann sagt auch der Letzte ihr unweigerlich »Servus, pfüati Gott und auf Wiedersehen«.
Dann kommt das Mittelalter – das Alter, in dem sich das Leben in der Mitte zeigt. Natürlich auch bei mir. Sollten Sie zufällig mal meine Füße treffen, grüßen Sie sie recht herzlich von mir, denn wir haben uns sehr lange nicht mehr gesehen.
Doch die absolute Krönung, das mit Abstand Perfideste kommt zum Schluss: Das »Mensch, du siehst aber gut aus, Alter!«-Alter.
Es ist eine Schweinerei. Eine bodenlose Frechheit. Wie kommt irgendjemand dazu, mir zu sagen, dass ich gut aussehe? Mit Mitte zwanzig hat das kein Mensch artikuliert. Mit Mitte dreißig auch nicht. Selbst mit Mitte vierzig noch nicht. Warum auch? Es gab ja keinen Grund: Ich sah gut aus! Mein Gesicht glatt wie ein Babypopo, mein Popo süß wie ein Babygesicht – da bedurfte es keinerlei aufbauender, bestätigender Worte.
Heute ist das anders. Jetzt höre ich plötzlich an jedem Tag, zu jeder Stunde, in jedem Moment: »Oh, Bill, du siehst aber gut aus!« Menschen, die jünger sind als ich, wollen mir mit diesem Satz Gutes tun. Sie meinen tatsächlich, mich damit aufzumuntern: Auch mit einem Bein im Grab kann man mit dem anderen noch tanzen. Ja, so sehen mich diese Jungspunde! Ich selbst habe ja gar kein Problem damit, im Gegenteil: Mir geht es prima. An den meisten Tagen fühle mich saugut. Hätte eigentlich gar keinen Grund, über mein Alter nachzudenken. Wenn, ja wenn ich nicht ständig immer wieder denselben schrecklichen Satz hören müsste!
»Oh, Bill, du siehst aber gut aus!«
Je mehr Adjektive dazu kommen, desto schlimmer ist es. »Oh, Bill, du siehst aber gut aus!« ist nämlich nur die Standardausführung, die im Vergleich fast noch harmlose Economy-Version. Die Intensität der Komplimente und das heimliche Entsetzen über meinen körperlichen Verfall steigen linear an. Mitunter strampelt sich mein Gegenüber so sehr ab, dass ihm am Ende die Schweißperlen auf der Stirn stehen: »Oh, Bill, du siehst aber gut, super, phantastisch, sagenhaft aus – großartig, sensationell, also wirklich, ein absoluter Traum, wunderbar … EEEEEEIN-MAL-IG!«
Wenn ich das zu hören kriege, weiß ich genau: Der hält dich längst für scheintot. Und mich kann das leicht verunsichern. Das macht eine sensible Künstlerseele einfach nervös! Ganz ehrlich: Ich würde mich weit wohler und entspannter fühlen, wenn Bekannte auf der Straße mit ausgestreckten Armen herzlich auf mich zukämen: »Oh, Bill, du siehst aber kacke aus! Verschrumpelt, tattrig, senil, kraft- und saftlos, richtig zombiemäßig … EEEEEEIN-MAL-IG!«
Da wäre ich weit entspannter. Aber nein, stattdessen: »Oh, Bill, du siehst aber gut aus!« Ich kann es nicht mehr hören. Ich könnte vor einen 40-Tonnen-LKW laufen, danach komplett vom kleinen Zeh bis zur letzten Haarspitze eingegipst im Krankenhaus liegen, und meine Freunde ständen vor dem Bett: »Mensch Bill, so gut wie heute hast du lange nicht ausgesehen! Treibst du wieder mehr Sport?«
Sie sehen: Widerstand ist zwecklos. Lassen Sie die Komplimente laufen. So wie ich jeden Morgen bei meiner Lieblingsverkäuferin in der Bäckerei
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