Je sueßer das Leben
Ort sei oder dass nichts ohne Grund geschehe und solches Zeug. Aber was wussten die schon?
Der Tod meines Sohnes lässt sich nicht so leicht erklären. Welchen Grund könnte es geben, dass ein zehnjähriges Kind stirbt? Damit Gracie aufwächst, ohne ihren älteren Bruder kennenzulernen? Damit wir alle bessere Menschen werden?« Julia schüttelt den Kopf. »Ich hasse es, ein besserer Mensch zu sein. Ich will kein besserer Mensch sein.« Diese letzten Worte sagt sie mit Bitterkeit in der Stimme und kämpft mit den Tränen.
Madeline hält Julias Hand und sieht ihr in die Augen. Sie versteht sie, wirklich, aber eine Sache muss Julia begreifen, etwas, das sie selbst einmal mit Verzweiflung erfüllte und sie gleichzeitig rettete.
»Julia, meine Liebe«, sagt sie leise, nachdem sie lange geschwiegen haben. »Was bleibt uns denn anderes übrig?«
Edie geht an der offenen Tür zum Esszimmer vorbei, sie weiß nicht, was sie tun soll. Die letzte Stunde hat sie damit verbracht, mit den Frauen im Wohnzimmer zu reden, Tee zu trinken und Geschichten zu sammeln. Das hat sie eine Woche lang jeden Tag gemacht und festgestellt, dass ihr das Geplauder, die Gespräche und die Gesellschaft Freude bereiten.
Aber an diesem Morgen hat sie eine E-Mail von einer Studienkollegin in ihrem Postfach vorgefunden. Sie ist mit einem Bericht über die Inhaftierung illegaler Immigranten für den Hillman Prize nominiert worden. Das hat gereicht, um Edie wieder zu Bewusstsein zu bringen, dass sie hier nicht aus Jux und Tollerei hingeht und es an der Zeit ist, sich ernsthaft an die Arbeit zu machen.
Sie hat sich regelmäßig mit Livvy getroffen, um über das Freundschaftsbrot zu sprechen. Livvy gleicht ihre fehlenden Recherchekenntnisse und ihre Vergesslichkeit durch Begeisterungsfähigkeit aus, und Edie ist ihr dankbar für ihre Hilfe. Edie glaubt, dass sie für ihren Artikel alles zusammenhat, und ist gespannt, ob sie genügend Interesse an Avalon und dem Freundschaftsbrot-Wahn, der die ganze Stadt befallen hat, wecken kann. Die Geschichte hat einen gewissen Reiz, aber der hängt im Wesentlichen davon ab, dass die Beteiligten enttarnt werden, dass sie ihnen Namen und den Namen Gesichter gibt. Nach Livvys Aufzeichnungen und den Daten in den Karteikästen war Madeline Davis die Erste, die den Teig hatte. Das muss irgendwann im März gewesen sein, also vor etwa drei Monaten.
Edies eigener Beutel nahm ein trauriges Ende. Sie hatte ihn in den Küchenschrank gelegt, weil sie seinen Anblick nicht ertrug, und ihn dann prompt vergessen. Es war Richard, der ein paar Tage später ein komisches Geräusch aus dem Inneren des Schranks vernahm.
Als sie die Tür öffneten, sprang ihnen ein aufgeblähter Gefrierbeutel entgegen und warf dabei eine Plastikdose mit einem Rest Thymian um. Edie schrie, und Richard holte den Beutel vorsichtig aus dem Schrank, aber nicht vorsichtig genug, denn er platzte auf, und der Inhalt ergoss sich über den Schrank und sie beide.
Richard bekam einen Lachanfall, kaum dass er den ersten Schrecken überwunden hatte. Der Teig tropfte aus seinen Haaren und von seinem Hemd. Edie dagegen bekam einen Wutanfall. Sie verbrauchten eine ganze Packung Reinigungstücher, bis alles wieder halbwegs sauber war.
Bei dem Geruch des Teigs hätte sie sich am liebsten übergeben. Besser gesagt: Sie hatte sich übergeben. Morgenübelkeit war offenbar nicht auf die ersten drei Monate beschränkt.
Glücklicherweise war Edie geistesgegenwärtig genug, um ein paar Fotos von dem Chaos in der Küche zu schießen, und sie hatte auch schon die perfekte Bildunterschrift: ACHTUNG: DAS KÖNNTEN SIE SEIN – BROTTEIG ÜBERFLUTET AVALON UND DIE KÜCHE EINER JOURNALISTIN.
Edie hat den Bericht im Grunde fix und fertig im Kopf, nur die Sache mit Madeline ist ihr noch nicht ganz klar. Noch weiß sie nicht, woher Madeline den Teig hat, und sie hat das Interview mit ihr bis heute vor sich hergeschoben. Aus irgendeinem Grund war Edie davon ausgegangen, dass Madeline jünger ist, eine mollige Frau um die fünfzig mit einer karierten Schürze. Diesen Eindruck hatte sie wahrscheinlich durch Livvys Erzählungen gewonnen. Edie hätte wissen sollen, dass sie besser keine voreiligen Schlüsse zieht. Mittlerweile fühlt sie sich jedenfalls nicht mehr ganz wohl dabei, Madeline den Freundschaftsbrot-Hype in die Schuhe zu schieben. Edie muss sich daran erinnern, dass es nichts Persönliches ist, dass sie nur Tatsachen berichtet.
Da räuspert sich plötzlich jemand hinter ihr,
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