Je sueßer das Leben
Küssen – ihr Gesicht, ihre Hände, ihre Fingerspitzen. »Du bist unglaublich, weißt du das?«
»Warum? Weil ich so wenig Ahnung von meinem Körper habe, dass ich nicht einmal etwas von der Schwangerschaft gemerkt habe?« Und nicht nur das, sie hat es fünfzehn Wochen lang nicht gemerkt. Das muss sie erst mal verdauen.
»Sie ist vollkommen. Hast du das gesehen? Vollkommen.« Er küsst Edie erneut. »Genau wie ihre Mutter.«
Oh nein. Am liebsten würde sie die Augen verdrehen, und gleichzeitig schmilzt sie dahin. Edie hat gerade einen kleinen Ausblick auf ihre Zukunft erhalten, und eines ist klar: Mit nächtelanger Arbeit und Abstechern in Entwicklungsländer ist es erst einmal vorbei, aber an deren Stelle tritt etwas, das ihr ganz neu sein wird. Frühstück im Bett. Fingerabdrücke auf den Wänden. Zeichentrickfilme statt Dokumentarfilme. Und ein hingebungsvoller, liebender Vater und zukünftiger Ehemann.
Gloria Hugel, 56
Wahrsagerin
Es ist nicht so leicht, in dieser Stadt ein Auskommen zu finden. In Conroy war es besser, dort hat Gloria zuletzt gewohnt, das Gelbe vom Ei war es allerdings auch nicht. Die Leute dort waren nämlich allesamt Kleingeister und wussten ihre Talente nicht wirklich zu schätzen.
Hier in Avalon hat Gloria ein paar Stammkunden. Sie hat eine Website ins Netz gestellt, und seither melden sich Leute aus der ganzen Welt bei ihr. Sie spielt mit dem Gedanken, einen Blog zu schreiben. Eine Menge Wahrsagerinnen tun das, aber sie wird wohl erst ein paar Computerkurse in der Volkshochschule belegen müssen, bevor sie so weit ist.
Ihr Zwei-Uhr-Termin wartet im Wohnzimmer. Gloria legt letzte Hand an – große Silberkreolen, die Haare zu einem Knoten geschlungen, schwarze Wimperntusche und Lidstrich. Gloria findet, dass ihr das gut steht und nicht wie eine Verkleidung aussieht, außerdem erwarten es ihre Kunden – sie haben ein bestimmtes Bild im Kopf, wie eine Wahrsagerin aussieht, und es geht einfach schneller, wenn sie dem entspricht. Bei Walmart gab es eine ganze Stange mit schwarzen Kleidern in großen Größen, die ihr perfekt passten, und sie hat gleich sieben Stück gekauft, eins für jeden Wochentag. Da muss sie nicht so oft waschen.
Gloria legt sich eine Stola um die Schultern. Sie mustert sich noch einmal kurz im Spiegel, dann verlässt sie das Schlafzimmer.
»Hallo, ich bin Miss Gloria.« Sie rauscht ins Wohnzimmer und reicht der Frau mit ausholender Geste die Hand. Sie führt sie zu einem Kartentisch, auf dem mehrere Kerzen stehen. Daneben liegen eine Kristallkugel und ein Stapel abgegriffener Tarotkarten. Sie braucht diesen Kram nicht, aber es verleiht dem Ganzen die richtige Atmosphäre.
Die Frau ist jung, Hausfrau, Mutter, so viel ist klar. Ein Kleinkind und ein Säugling. Um das herauszufinden, muss man keine Hellseherin sein – der Fleck Erbsenpüree auf der Bluse der Frau und die Filzstiftstreifen auf ihrer Jeans sagen genug, außerdem hat sie eine riesige Windeltasche über der Schulter hängen. Und danach zu urteilen, wie sie an ihrem Ehering dreht, will sie bestimmt etwas über ihren Mann wissen.
Die Frau ist nervös. »Ich habe so etwas noch nie gemacht«, sagt sie. »Ich weiß gar nicht, was ich tun soll …«
»Entspannen Sie sich einfach«, sagt Gloria mit sanfter Stimme. Sie zündet eine Kerze an, die Sandelholz-Patschuli-Duft verströmt und die sie bei Bed Bath & Beyond entdeckt hat, als sie das letzte Mal in Chicago war. Ein Sonderangebot.
»Sie haben das also schon mal gemacht?«, fragt die Frau.
»Ich bin Hellseherin in der siebten Generation. Ich kann auch Gedanken lesen. Wie heißen Sie?«
»Lenora.«
»Lenora …« Gloria haucht ihren Namen und schließt dabei die Augen. Sofort entsteht ein Bild in ihrem Kopf. Sie sieht einen Jahrmarkt, einen Vergnügungspark. Zuckerwatte, Fahrgeschäfte. Ein Mann in Uniform. Army, nein, Navy …
»Sie müssen wissen …«, unterbricht Lenora sie flüsternd.
»Einen Moment noch …« Das Bild wird durch die Störung blasser, doch dann öffnet sich Gloria wieder, und es kehrt zurück. Sie spürt, dass es nicht aus der Gegenwart stammt, sondern aus der Vergangenheit … der Vater vielleicht oder auch der Großvater, mit einer Botschaft für Lenora …
»Ich habe kein Geld«, flüstert Lenora.
Das Bild verschwindet, und Gloria öffnet ein Auge. »Wie bitte?«
Lenora wirkt verlegen. »Ich dachte, ich sollte Ihnen vielleicht sagen, dass ich nicht zahlen kann, also, ich meine, nicht in bar.«
Gloria seufzt
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