Je sueßer das Leben
anderen Ende der Leitung ist ein gequälter Seufzer zu hören, so als spräche er mit einem Kind, so als wäre das Ganze der Mühe nicht wert. »Es gibt nichts mehr zu reden, Hannah.«
Nichts mehr zu reden? Sie sind seit sieben Jahren zusammen, davon vier verheiratet, und es gibt nichts mehr zu reden? Früher haben sie stundenlang im Bett miteinander geredet. Okay, sie haben miteinander geschlafen und geredet, aber das haben sie auch schon eine halbe Ewigkeit nicht mehr gemacht. Dennoch weiß Hannah nicht, wie – oder wann – die Sache anfing schiefzugehen. Warum kann er ihr das nicht sagen und ihr eine Chance geben, es besser zu machen? Sie kennt Philippe, weiß, dass er allein nicht gut klarkommt. Anders als vielen anderen Männern gefällt es ihm, ein Paar zu sein. Er mag die Nähe, das Vertraute. Er ist gerne verliebt, aber wie kann er verliebt sein, wenn er nicht bei ihr ist?
Weil er in eine andere verliebt ist, du Idiotin!
Diese Erkenntnis trifft sie wie ein Schlag. Natürlich . Als sie sich in New York kennenlernten, hatte er auch eine andere, eine Konzertpianistin, die er wegen Hannah verließ. Hannah hatte zwar ein schlechtes Gewissen, aber auch wieder kein übermäßig schlechtes – gegen seine Gefühle kann man nun einmal nichts ausrichten. Abgesehen davon hatte er ihr gesagt, dass die Beziehung schon länger nicht mehr funktionieren würde und am Ende sei. Und sie hatte ihm geglaubt, hatte den verletzten Ausdruck der Pianistin ignoriert, als sie ihr auf der Geburtstagsparty einer gemeinsamen Freundin in der Park Avenue begegneten.
»Hast du eine andere?« Hannah bringt die Frage nur mit Mühe heraus.
Schweigen am anderen Ende.
Dann sagt er: »Hannah …«, mehr nicht.
Dieses eine Wort, ihr Name, enthält seine ganze Rechtfertigung, seine Verärgerung, sein erleichtertes, unausgesprochenes Geständnis. Aber es ist auch klar, dass er nicht mehr sagen wird, und er wird sich bestimmt nicht entschuldigen.
Sie vergräbt ihr Gesicht in den Händen. Wie hatte sie nur so ahnungslos sein können? Sie denkt an ihre Freunde, die mit Philippe zusammen spielen und ihr geraten haben, ihn nicht aus den Augen zu lassen. Sie hat gelacht, dann hat sie Angst bekommen und nicht gewusst, was sie tun soll. Also hat sie nichts getan.
»Ich an deiner Stelle«, fährt Philippe fort, »würde einen Kaffee trinken gehen oder so. Sie werden schnell fertig sein, das geht ruck, zuck. Sie wissen, was sie abholen sollen, sie haben eine Liste und packen alles selbst ein. Wenn das erledigt ist, können wir miteinander reden und überlegen, was als Nächstes zu tun ist.«
Als Nächstes? Was könnte das sein? Sie kann sich nur einen »nächsten Schritt« vorstellen.
Oh Gott . Sie zittert, als Philippe laut »Hannah« ruft, ungeduldig. »Hörst du überhaupt zu, Hannah? Die Umzugsfirma ist auf der anderen Leitung, und ich muss ihnen das Okay geben.« Dann sagt er noch etwas von übermorgen.
Hannah fühlt sich wie betäubt. Das Telefon fällt ihr aus der Hand, und das Plastikgehäuse bricht, als es auf das Parkett schlägt. Sie geht wieder ins Musikzimmer, wo sie endlich das Paket öffnet, das sie heute bekommen hat. Eingebettet in die Styroporpolsterung liegt ihr Bogenkoffer.
Sie öffnet den Koffer und holt ihren Bogen heraus, neu bespannt und bereit, gespielt zu werden. Sie dreht an der Schraube und spannt die Haare. Dann nimmt sie das Geigenharz, das auf einem Tischchen liegt, und fährt damit in kleinen kreisenden Bewegungen über die ganze Länge des Bogens. Sie spürt, wie sich ihr Atem wieder normalisiert, die Vertrautheit dieser schlichten Bewegung beruhigt sie augenblicklich.
Übermorgen . Nicht, wenn sie es verhindern kann.
Sie setzt sich auf den Stuhl, dann spreizt sie leicht die Beine und rückt das Cello zurecht. Während sie tief Luft holt, zieht sie langsam den Bogen über die Saiten. Sofort ist das Zimmer von einem tiefen, satten Klang erfüllt, der ihr einen Schauer über den Rücken jagt. Sie schließt die Augen. Die Musik hebt sie in die Höhe, sie verlässt ihren Körper, wird ganz leicht, bis sie wie Rauch aus einem Kamin in den offenen Himmel schwebt. Stille breitet sich in ihrem Kopf aus, und sie spürt, wie sie sich in alles und nichts auflöst.
Hannah hat nie begriffen, was beim Cellospielen mit ihr passiert, aber sie akzeptiert es dankbar und bereitwillig, sehnt den Zustand sogar herbei. Sie muss gar nicht hoffen, dass der Schmerz vorübergeht, denn er ist schon nicht mehr da. Es ist nur noch Musik
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