Je sueßer das Leben
Dose.
»Das war einmal ein Bed & Breakfast«, sagt Julia mehr zu sich als den anderen, aber Madeline bekommt es mit und lächelt. »Das Belleweather. Frank und Jan Morgan haben es geführt. Aber das wissen Sie wahrscheinlich schon.«
»Mehr weiß ich allerdings nicht«, sagt Madeline. »Ich bin rein zufällig auf dieses Haus gestoßen. Ich war eigentlich auf dem Weg zurück nach Chicago, nachdem ich zwanzig Jahre in Kalifornien gelebt habe. In Berkeley.« Sie bringt den Frauen ihre Quiches, dann setzt sie sich mit einer Kanne Tee an einen freien Tisch. »Ich habe am Straßenrand angehalten, um kurz Rast zu machen und mir die Beine zu vertreten, da sah ich das ›Zu verkaufen‹-Schild. Kaum hatte ich das Haus zum ersten Mal betreten, wusste ich, dass ich angekommen war.« Sie gießt etwas Milch in ihren Tee.
»Wirklich?« Für Julia war Avalon immer schon gleichbedeutend mit Zuhause, selbst als sie aufs College ging, und dieses Gefühl hatte sie, als ihre ganze Welt zusammenbrach, aufrecht gehalten. Veränderungen – ein neuer Wohnort, ein neuer Job, ein neues Leben – waren Julia nie so reizvoll erschienen wie anderen, daher ist sie überrascht, als sie bei Madelines Worten Neid verspürt. Wie ist es, wenn man über seine eigene Zukunft stolpert und sie so klar erkennt? Ist es wirklich so, als öffnete man eine Tür und sähe sie vor sich? Und dann?
Auch die Asiatin hört gespannt zu, die Hand mit der Gabel mitten in der Bewegung erstarrt. »Aber woher wussten Sie das denn?«, fragt sie. Julia hat sie noch nie gesehen, das heißt, sie ist entweder neu hier oder nur auf der Durchreise. Ihre Arme sind muskulös, und sie hält sich gerade. Sie ist schlank und beweglich, wirkt aber nicht zerbrechlich. Wenn sie größer wäre, könnte sie Balletttänzerin sein, denkt Julia.
Madeline zuckt die Achseln und gießt noch ein wenig Milch in ihren Tee. »Ich war mir meiner Sache einfach gewiss. Kennen Sie nicht diesen Moment, in dem Sie plötzlich von etwas überzeugt sind? Selbst wenn Sie sich keinen rechten Reim darauf machen können?« Sie gestikuliert mit dem Teelöffel.
»Nein«, sagen Julia und die andere Frau wie aus einem Mund und blicken sich erstaunt an.
»Wir sollten einen Chor gründen«, sagt die Frau, und Julia muss grinsen. Zwischen ihnen liegen bestimmt zehn Jahre, vielleicht sogar mehr, aber sie findet sie sympathisch und will sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen. »Ich heiße Julia«, sagt sie.
»Hannah.« Es entsteht eine kurze Pause, als sich die beiden freundlich mustern. »Sind Sie aus Avalon?«
Julia nickt und pikst eine Erdbeere mit der Gabel auf. Sie erinnert sich noch schwach an Momente wie diesen. Sie hat seit Ewigkeiten nicht mehr den Impuls gehabt, neue Leute kennenzulernen oder etwas über sich selbst zu erzählen. In der Stadt kennt sie praktisch jeden, aber zum ersten Mal seit langer Zeit weicht das Gefühl von Beengtheit von ihr, das Gefühl, wie unter einem Vergrößerungsglas von allen beobachtet zu werden. »Ja, ich bin hier geboren und aufgewachsen. Dann bin ich nach Chicago aufs College. Und später zum Aufbaustudium.« Sie erwähnt nicht, dass sie das Studium abgebrochen hat. Die Entscheidung hat ihr nie leidgetan, weil an dessen Stelle etwas Größeres, Besseres trat – sie wurde schwanger. »Und Sie?«
»Ich bin vor drei Monaten mit meinem Mann hierhergezogen«, sagt Hannah. »Von New York mit einer Zwischenstation in Chicago.«
»New York ist eine wunderbare Stadt«, sagt Madeline seufzend. Julia wünschte, sie könnte ihr beipflichten, aber sie war noch nie dort. »Die Theater, die Geschäfte … wobei ich zugeben muss, wenn man mich heute so sieht, wird man denken, dass ich den lieben langen Tag in der Küche stehe. Was im Grunde ja auch stimmt.« Madeline wischt einen Rest Mehl von ihren Händen.
Hannah schweigt, ihre Aufmerksamkeit ist von etwas, das auf der Straße passiert, gefesselt. Unruhe zeichnet sich auf ihrem Gesicht ab, wird abgelöst von einem Ausdruck, den Julia kennt, leider allzu gut.
Traurigkeit.
Das ist ein Fehler.
Von ihrem Fensterplatz aus kann Hannah die Straße hinunter bis zu ihrem hübschen kleinen Häuschen mit der Schaukel auf der Veranda sehen. Der Lastwagenfahrer sieht verwundert auf die Kartons mit Philippes Sachen vor der Haustür. Vergeblich versucht er, die Haustür aufzusperren. Er wirft noch einmal einen Blick auf den Auftragsschein, dann zuckt er die Achseln und gibt seinen Männern ein Zeichen, dass sie mit dem Beladen des
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