Je sueßer das Leben
Lastwagens beginnen sollen.
Zwei Stunden nach Philippes Anruf, in denen sie unablässig Prokofjew gespielt hat, fand Hannah endlich die nötige Kraft. Sie ließ die Schlösser austauschen und packte seine Sachen zusammen. Sie wollte nicht, dass irgendwelche Fremden in ihr Haus kamen und alles durchwühlten, während sie irgendwo »Kaffee« trank. Was glaubte Philippe eigentlich, wo sie wohnte? Starbucks hatte noch nicht den Weg nach Avalon gefunden, und der Gedanke, sich in ein volles Lokal zu setzen oder etwas im Supermarkt zu kaufen, war unerträglich. Dann erinnerte sie sich an den meistens völlig verwaisten Teesalon mit der älteren Frau hinter der Theke, die immer mit einem Staublappen herumlief und sich an irgendetwas zu schaffen machte.
Das wird ihm zeigen, dass er sich besser nicht mit mir anlegen sollte , hatte sie noch vor einer Stunde triumphierend gedacht, als sie sich auf den Weg in den Teesalon machte. Aber jetzt spielt Hannah mit dem Gedanken, die Straße hinunterzulaufen und den Umzugsleuten zu sagen, sie sollen aufhören, damit sie die Tür aufsperren und alles wieder an seinen Platz tragen kann. Ehrlich gesagt hätte sie es sogar getan, wenn Madeline und Julia nicht angefangen hätten, sich mit ihr zu unterhalten. Als Hannah erneut aus dem Fenster blickt, sind die Kartons und der Lastwagen verschwunden.
Plötzlich wird Hannah übel.
»Hannah? Geht es Ihnen gut?« Madeline steht vor ihrem Tisch, um den leer gegessenen Teller abzutragen.
Hannah bringt kein Wort heraus. Was hat sie sich nur dabei gedacht? Madeline und Julia sehen sie mit besorgten Gesichtern an. Hannah versucht sich zu einem Lächeln zu zwingen, aber dann merkt sie, dass sie sich übergeben muss. Sie legt eine Hand vor den Mund. »Ich glaube, mir wird schlecht.«
Madeline stellt den Teller ab und begleitet Hannah schnell auf die Toilette, wo sie sich prompt in die Kloschüssel übergibt. Madelines Hand liegt warm auf ihrem Rücken und stützt sie, ihre Stimme klingt beruhigend.
Schließlich holt Madeline ein frisches Handtuch und legt es auf den Rand des Waschbeckens. »Lassen Sie sich Zeit«, sagt sie freundlich. Sie lächelt sie an, bevor sie die Tür hinter sich schließt.
Hannah starrt erschrocken ihr Spiegelbild an und schließt die Augen. Das wird er ihr nie verzeihen. Jetzt wird er nie wieder nach Hause zurückkommen.
Was hat sie nur angerichtet?
Als Hannah schließlich aus der Toilette herauskommt, sprechen Julia und Madeline leise miteinander. Sie richten sich auf, als sie sie sehen. Madeline führt Hannah an ihren Tisch zurück, auf dem eine Scheibe Toast ohne Rinde und eine Tasse Tee auf sie warten.
»Nur wenn Sie wollen«, sagt Madeline. »Vielleicht beruhigt es ja Ihren Magen.«
Hannah wischt sich über die Augen. In ihrer Kindheit wurden sie und ihr Bruder ausgeschimpft und manchmal sogar versohlt, wenn sie auch nur eine Träne vergossen, was natürlich erst recht zu Tränen führte, zumindest anfangs. Albert endete schließlich mit einem ebenso versteinerten Gesicht wie ihr Vater, während Hannah heute beim geringsten Anlass in Tränen ausbricht, was besonders in letzter Zeit der Fall ist. » Y˘ong zh˘e wú wèi «, fuhr ihr Vater sie immer an, das chinesische Pendant zu »Reiß dich am Riemen«.
»Tut mir leid. Es liegt bestimmt nicht am Essen – es war wirklich sehr gut.« Hannah nimmt den Toast und bricht ein Stückchen ab. Sie versucht zu lächeln, kann aber nicht. Sie hat Angst, dass sie wieder zu weinen anfängt und sich vor diesen beiden Frauen vollends zum Idioten macht. »Ich habe wahrscheinlich einfach keinen guten Tag.«
Julia ist zu ihrem Tisch gekommen. »Das kenne ich.« Sie drückt Hannahs Hand, und als Hannah den Kopf hebt, sieht sie etwas in Julias Augen, das zugleich traurig und gehetzt wirkt. »Das kenne ich nur zu gut.«
Madeline weiß nicht genau, was sie mit diesen beiden Frauen, die sich in ihrem Haus eingefunden haben, machen soll. Natürlich, es ist ein Teesalon, aber in erster Linie ist es ihr Haus, ihr Heim, und Julia und Hannah befinden sich in ihrem Esszimmer und sehen beide so aus, als würden sie jeden Augenblick losheulen. Sie hat keine Ahnung, was mit den beiden los ist, aber etwas ist mit ihnen los.
Was für ein Leben , denkt sie, als sie vor einem Teller mit Schokoladenkeksen steht und ein paar davon in eine Papiertüre füllt. Dann nimmt sie eine andere Tüte und legt Muffins hinein, ihre Spezialsorte mit Himbeeren, Brombeeren und Stachelbeeren und Ahornsirupglasur.
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