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Je sueßer das Leben

Je sueßer das Leben

Titel: Je sueßer das Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Darien Gee
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wohin man gehen und was man sehen muss. Es ist ihr peinlich, wie wenig sie über die Stadt, in der sie lebt, weiß, aber Hannah hat immer gedacht, sie würde sie gemeinsam mit Philippe erkunden.
    Sie verdrängt den Gedanken an Philippe und richtet ihre Aufmerksamkeit wieder auf Julia, deren Zuneigung zu ihrem Heimatstädtchen sie anrührt.
    Heimat. Die Vorstellung, irgendwo Wurzeln zu schlagen oder überhaupt Wurzeln zu haben, ist Hannah fremd. Sie ist in ihrem Leben schon sieben Mal umgezogen, entweder wegen der Musik oder weil ihre Mutter krank wurde und sie in der Nähe der Spezialklinik in Los Angeles ihre Zelte aufschlugen. Hannah hat das Gefühl, als wäre ihr ganzes Leben immer irgendwo eingelagert gewesen – einige Dinge hier, andere dort, nie alles gleichzeitig an einem Fleck, noch heute nicht. Ihre Habseligkeiten sind zwischen Avalon und ihrer Wohnung in Chicago aufgeteilt, und ihr Bruder Albert erinnerte sie kürzlich, dass nach wie vor drei Kisten von ihr im Dachgeschoss ihres Elternhauses in Maryland stünden.
    »Ich habe nie länger als vier Jahre an einem Ort gelebt«, erzählt Hannah. »Ich habe mir immer gesagt, dass ich ein Wandervogel bin, dass mir das Umherziehen im Blut liegt. Aber damit habe ich mir etwas vorgemacht. Ich wollte mir nicht eingestehen, dass es keinen Ort gibt, den ich Zuhause oder Heimat nennen kann.«
    »Wo würden Sie denn leben wollen, wenn Sie die Wahl hätten?«, fragt Julia.
    »Ich glaube, es geht dabei nicht so sehr um einen konkreten Ort als vielmehr um ein Gefühl. Verstehen Sie, was ich meine? Ich habe eine ganz und gar romantische Vorstellung von dem, was zu Hause ist, eine Familie, Kinder, die Fahrrad fahren, Picknicks und gemeinsame Sommerferien.« Hannah lächelt wehmütig – sie hat nie Sommerferien gehabt, und ihr Vater wäre nie auf die Idee gekommen, mit seinen Kindern ein Picknick zu veranstalten. Weder sie noch Albert hatten je ein Fahrrad besessen, noch heute hat sie keines. »Wir haben die amerikanischen Feiertage zwar gefeiert, aber irgendwie hatten sie bei uns immer etwas Chinesisches.«
    Da Julia verwirrt dreinschaut, erzählt ihr Hannah, dass ihre Eltern einmal zu Thanksgiving einen Truthahn brieten, und weil sie der Meinung waren, dass er langweilig schmeckte, gab es im nächsten Jahr wieder eine knusprig gebratene Ente mit süßem, saftigem Fleisch. Hannah erinnert sich, wie sie und Albert damals am Treppengeländer kauerten, die Bettgehzeit war schon lange verstrichen, und den Männern zuhörten, die auf Chinesisch palaverten, während die Frauen Mah-Jongg spielten, mit flinken Fingern die bunten Spielsteine hin und her schoben und miteinander lachten und stritten.
    Julia lächelt. »Das hört sich doch nett an, Hannah.«
    »Ja, wahrscheinlich«, sagt Hannah. »Aber ich wollte einfach immer ein altmodisches Thanksgiving haben. Ich bin nicht in Taiwan geboren, ich bin hier geboren. Ich möchte einfach genauso leben wie die anderen.«
    »Da haben Sie ja den richtigen Beruf gewählt.«
    Hannah lächelt. »Das ist wahr. Und dann musste ich natürlich auch noch einen Franzosen heiraten, so dass es ständig irgendwelche französischen Feiertage zu feiern gab, zum Beispiel den Nationalfeiertag am 14. Juli. Nicht, dass ich etwas dagegen hätte, aber ich will einfach …«
    »Eine schöne amerikanische Weihnacht«, beendet Julia den Satz für sie.
    »Und Thanksgiving und Ostern.« Hannah seufzt.
    Julia lächelt. »Wissen Sie was, Hannah – das können Sie jetzt alles haben. Hier in Avalon.«
    Hannah überlegt. Avalon mochte zwar Philippes Wunschort gewesen sein, aber es ist trotzdem eine dieser uramerikanischen Kleinstädte. »Da haben Sie wahrscheinlich recht.«
    Der Mittagsandrang ist vorbei, und außer Hannah und Julia sind nur noch wenige andere Gäste übrig. Als sie mit Essen fertig sind, kommt Madeline mit einer Kanne Tee und drei Tassen und setzt sich zu ihnen.
    »Endlich!«, ruft sie erschöpft, aber glücklich. »Diesen Tee will ich schon länger probieren. Pfefferminz mit einem Hauch Kakao. Gut für die Verdauung.«
    Julia lächelt. »Sie verwöhnen uns.«
    »Ach, Unsinn.« Madeline macht eine wegwerfende Handbewegung, aber die beiden Frauen wissen, dass sie sich freut. Madeline lässt die Hände in den Schoß sinken und deutet mit dem Kopf auf das Büfett mit den Nachtischen. »Gehen Sie und suchen Sie sich etwas aus – links sind die Teller.« Sie prüft, ob der Tee fertig ist, aber er muss noch ziehen.
    Julia bedient sich als Erste:

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