Je sueßer das Leben
anzieht«, bemerkt Hannah.
Julia nickt. »Stimmt, aber offenbar gibt es viele, die gerne einen Ausflug den Fluss entlang machen. Und da bietet sich ein kleiner Abstecher nach Avalon an.«
Das leuchtet Hannah ein, schließlich hatten sie und Philippe das Städtchen auf dieselbe Weise entdeckt. Sie erinnert sich an das malerische Holzschild, das sie in Avalon willkommen hieß, als die Neugier sie das erste Mal hierherlockte.
Julia deutet auf die Speisekarte. »Das hört sich gut an: ›Trio von Finger-Sandwiches‹. Lachs und Frischkäse, Truthahn mit Cranberry-Relish, Ziegenfrischkäse mit Wasserkresse. Das nehme ich.« Sie macht einen zufriedenen Eindruck. »Haben Sie sich schon entschieden?«
Hannah studiert die Speisekarte mit dem Angebot an Suppen, Salaten, Quiches und Sandwiches und hat keine Ahnung, was sie bestellen soll. Die Speisekarte ist nicht umfangreich, aber die Auswahl verführerisch. Hannah ist nicht besonders wählerisch – das war sie noch nie. Normalerweise nimmt sie, was Philippe bestellt, nicht weil sie eine Opportunistin ist, sondern weil sie Entscheidungsprobleme hat. Bislang hat Hannah über solche Dinge nie weiter nachgedacht.
Die Leute um sie herum essen alle Sachen, die sehr appetitlich aussehen, und Julia weiß schon, was sie will. Und sie, was will sie? Dabei geht es nur um ein Mittagessen – nicht um den Rest ihres Lebens. Schließlich gibt sie auf. »Ich bitte Madeline, mir etwas zu empfehlen.« Sie legt die Speisekarte hin und ärgert sich, dass sie nicht einmal die einfachste Entscheidung treffen kann.
Madeline kommt mit einer Karaffe Eistee und zwei großen Gläsern zu ihnen an den Tisch. Sie stellt sie ab. »Geeister grüner Tee mit Ingwer«, verkündet sie. »Meine eigene Mischung. Wenn Ihnen der Tee nicht süß genug ist, da steht Sirup auf dem Tisch. Das heutige Tagesgericht ist übrigens ein schöner Croque Madame mit Mornaysauce. Ein Nachbar hat mir heute drei Dutzend Bioeier von seiner Farm angeboten, und ich konnte einfach nicht widerstehen. Dazu gibt es einen grünen Salat. Neun fünfundneunzig.«
»Das nehme ich«, sagt Hannah sofort. Sie schenkt sich und Julia Eistee ein. »Dann bestellt Madame de Brisay also den Croque Madame, s’il vous plaît .« Sie imitiert einen französischen Akzent, was sich reichlich komisch anhört.
»Ich hätte gern die Finger-Sandwiches«, sagt Julia. »Wer ist Madame de Brisay?«
»Ich.« Hannah rührt ein wenig Sirup in ihren Eistee. »Mein Mann ist Franzose.« Sie sieht nicht auf.
Madeline reißt überrascht die Augen auf. »Ich kenne Sie!«, ruft sie. Sie stützt die Hände in die Hüften und sieht Hannah vorwurfsvoll an, so als hätte sie ihr die ganze Zeit über etwas verheimlicht. »Hannah de Brisay, geborene Wang. Ich habe in der New York Times einen Artikel über Sie gelesen. Sie sind Konzertcellistin!«
»War«, korrigiert Hannah sie.
»Ich meine mich sogar zu erinnern, ein Interview mit Ihnen im Radio gehört zu haben. Haben Sie nicht bereits mit drei Jahren angefangen, Cello zu spielen?«
»Mit drei?« Julia starrt sie an. Hannah wird rot.
Madeline fährt unbeirrt fort. »Der Interviewer, ich glaube, es war Joel Rose, hat gesagt, im Alter von sieben Jahren hätten Sie ein ganzes Stück nachspielen können, wenn Sie es nur einmal gehört hatten.«
Sie war damals sechs, aber Hannah verzichtet darauf, sie zu verbessern. Es schmeichelt ihr, dass jemand in diesem Städtchen sie kennt, es ist auch irgendwie beruhigend, so als hätte sie ihre Identität nicht völlig verloren.
Madelines Begeisterung muss ansteckend wirken, denn jetzt lächelt auch Julia sie breit an. »Sie haben bei den New Yorker Philharmonikern gespielt. Ich fasse es nicht – wir haben einen Star unter uns!« Madelines Stimme wird immer lauter, und ein paar Köpfe drehen sich neugierig zu ihnen um.
»Nein, nein«, sagt Hannah hastig. »Ich trete schon länger nicht mehr auf. Das ist alles eine Ewigkeit her.«
»So lange kann das nicht her sein. Jung und schön, wie Sie sind.« Madeline bedenkt sie mit einem freundlichen und zugleich strengen Blick, und Hannah fragt sich, ob sie mehr weiß, als sie zu erkennen gibt.
Ihre Gastgeberin sieht sich in dem Teesalon um, der nach wie vor gesteckt voll ist. »Ist es nicht schrecklich, kaum wird es interessant, muss ich zurück an die Arbeit. Aber ich komme wieder, wenn es ruhiger ist. Der Nachtisch geht aufs Haus – suchen Sie sich etwas aus.« Sie ist verschwunden, bevor die beiden Frauen protestieren
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