Je sueßer das Leben
ein weiches Flanellnachthemd, das ihr zu kurz und um die Schultern ein wenig zu eng ist, aber Madeline hat nichts anderes gefunden, was der großgewachsenen Julia passen würde. Obwohl es warm im Zimmer ist, zittert Julia und klappert mit den Zähnen, und gelegentlich erschauert sie, so als hätte sie Schüttelfrost.
»Ich kann nicht nach Hause«, wiederholt sie, und Madeline und Hannah nicken. Sie scheinen sie auch ohne Erklärung zu verstehen. Wie kann das sein, nachdem sie so lange niemand verstanden hat, egal was sie sagte?
Außer Mark, der mitbekam, wie sie sich zurückzog, und sie dennoch in Ruhe ließ, weil er wusste, dass niemand sie auf diesem Weg begleiten konnte. Das geht schon seit langer Zeit so, und als er dann heute Abend nach Hause kam und sie mit diesem Blick ansah, reagierte sie mit Panik. Für einen Moment stand ihr das Leben, das sie einmal geführt hatten, vor Augen, aber das war für alle Zeiten vorbei. Wie sollte es jemals wieder wie früher werden?
Was passiert, wenn man ein Kind verliert? Julia ist nie imstande gewesen, ihre Trauer in Worte zu fassen. Den Schock. Die Verzweiflung. Was soll man auch sagen, wenn plötzlich das eigene Leben in Scherben vor einem liegt?
In den Tagen und Monaten, die Joshs Tod folgten, war Julia wie betäubt. Es war ein Alptraum, aus dem Julia erwachen wollte, aber nicht konnte. Als vier Monate später Gracie zur Welt kam, weinte Julia so sehr, dass der Arzt ihr ein Beruhigungsmittel geben musste. Niemand wusste, warum sie das tat. Sie hörte, wie die Leute sich zuraunten, sie würde noch um Josh trauern, so als würde sie irgendwann einmal damit aufhören. Niemand begriff, dass sie um ihre Tochter trauerte. Um Gracie. Auch Gracie war jetzt auf dieser Welt, in der ihr jederzeit etwas passieren konnte.
Anfangs versuchten ihre Freunde noch, sie zu trösten, aber dann zogen sie sich nach und nach zurück. Julia hatte keine Lust auszugehen, und wenn sie es doch tat, lächelten die Leute ihr verlegen zu und sahen weg. Sie war in dieser Stadt aufgewachsen und kannte die meisten Einwohner von Kindheit an, aber plötzlich wandten sie sich von ihr ab. Angeblich schweißt eine Tragödie die Menschen zusammen. Bei Julia war das anders, sie musste erfahren, dass sie sie von ihnen entfernte.
Irgendwann hatten sich alle zurückgezogen, selbst ihre Eltern. Ihre Mutter und ihr Vater hatten in den ersten Wochen mit ihr zusammen getrauert, aber es schien, als hätten sie schnell wieder Boden unter den Füßen, kehrten zurück in die Welt und ihren Alltag, in dem sie so banale Dinge taten wie Einkaufen und Rasenmähen. Sie versuchten, Julia dazu zu bewegen, ein wenig mehr zu essen, sich zu duschen, spazieren zu gehen. Sie widersetzte sich.
Als Julia sich an Joshs erstem Todestag weigerte, sich die Diashow mit Familienbildern anzusehen, die sie liebevoll zusammengestellt hatten, waren sie beleidigt. Es erschütterte sie, als Julia an Joshs erstem Geburtstag nach seinem Tod alle Geschenke von seinem Grab entfernte – Ballons, Spielzeug, ein T-Shirt von seiner Lieblingsbaseballmannschaft –, außer den Blumen, die sie selbst mitgebracht hatte. Niemand schien zu begreifen – niemand außer Mark, der ihr schweigend geholfen und die Sachen zur Heilsarmee gebracht hatte –,dass keins dieser Dinge für Josh war. Sie waren für die anderen, damit sie ihren falschen Frieden mit seinem Tod machen konnten, als wäre er immer noch Gast auf seiner eigenen Party. Keiner schien zu merken, dass Josh nichts mit diesen Dingen anfangen konnte, weil er tot war.
Julias Eltern wurde es bald zu viel, das Leben ihrer Tochter zu organisieren. Nicht, dass sie sie darum gebeten hätte, aber sie ließen sich nicht davon abbringen. Sie redeten in der dritten Person von ihr, wenn sie ihre Woche planten und sich mit Mark absprachen, wer sich wann um Gracie kümmerte. Ihre Eltern verständigten sich mit Blicken über Julia, so als wäre sie gar nicht da. Sie wollten, dass sie ein neues Kapitel in ihrem Leben aufschlug, und als sich zeigte, dass sie dazu nicht imstande war, machten sie es selbst.
An dem Tag, an dem ihr Flug nach Florida ging, kam ihre Mutter, um sich von ihr zu verabschieden. Joshs Tod lag drei Jahre zurück. Rebecca Townsend hatte sich schick gemacht, sie war beim Friseur und bei der Maniküre gewesen, so als wollte sie eine Party besuchen. Julia konnte sie nicht einmal ansehen.
»Julia.« Ihre Mutter nahm ihre Hände. »Julia, wir alle vermissen Josh, aber du musst das hinter dir
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