Je sueßer das Leben
hatte Julia sie aus dem Haus verbannt. Nur Livvy würde die von ihr erlassenen Regeln missachten, dachte Julia. Julia nahm den Riegel, um ihn wegzuwerfen, aber dann konnte sie es nicht. Sie legte ihn zurück, fuhr nach Hause und verkroch sich im Bett.
Sie litt unter Schlaflosigkeit, Migräne, unter allem. Das Leben – die Welt – war einfach zu viel für sie. Die Ärzte verschrieben Julia Medikamente, die sie nicht nahm. Sie wollte keine Linderung – wenn das auch niemand verstand. Der Schmerz war real. Ihr Sohn war gestorben. Warum sollte sie Linderung finden und er nicht?
Sie sieht die Sorge in Madelines und Hannahs Augen, sieht, dass sie ihr helfen wollen, aber sie machen gleichzeitig einen verstörten Eindruck. Julia hat etwas von einer Verrückten – sie merkt, dass sie langsam durchdreht, dass sie wirklich den Verstand zu verlieren beginnt. Sie werden sie wegsperren. Es bleibt ihnen nicht anderes übrig, als sie wegzusperren und den Schlüssel wegzuwerfen, um sie für etwas zu bestrafen, wofür sie schon vor langer Zeit hätte bestraft werden sollen.
Sie hätte bei ihm sein müssen. Sie hätte ganz einfach bei ihm sein müssen.
Julia schließt die Augen, sie kann nicht aufhören zu zittern, auch wenn sie das Gefühl hat, am ganzen Leib zu brennen. Sie spürt es in ihrem Inneren. Die Hitze versengt ihr Inneres und verschlingt sie.
Und dann – Schwärze.
Madeline weiß, wie es ist, zu trauern. Sie erinnert sich an den Schmerz, den sie bei Stevens Tod verspürt hat, als wäre es gestern gewesen. Auf einen plötzlichen Tod kann man sich nicht vorbereiten, er lässt einem keine Gelegenheit, sich zu verabschieden oder dem anderen seine Liebe zu versichern.
Die Größe des Schmerzes, der mit dem Verlust eines Kindes verbunden ist, kann Madeline dagegen nicht einmal erahnen. Das entspricht nicht der natürlichen Ordnung des Lebens. Kinder sollen ihre Eltern überleben. Sie sollen ein langes und erfülltes Leben haben. Sie sollen erwachsen werden, heiraten, eigene Kinder bekommen. Nichts kann einen auf diesen Schmerz vorbereiten – er ist mit nichts zu vergleichen.
Als sie Steven verlor, verlor sie auch Ben. Natürlich auf andere Weise, aber es tat ihr dennoch sehr weh. Die Erinnerung daran, dass sie über lange Jahre immer froh gewesen war, wenn Ben nicht da war und ihnen Kummer bereitete –und dann war Ben auf einmal der einzige Mensch, der verstehen konnte, was Stevens Verlust tatsächlich bedeutete. Heute wünschte sie, sie hätten nicht jeder für sich getrauert, insbesondere Ben nicht, denn die Einsamkeit ist manchmal das Schlimmste.
Es dauerte seine Zeit, aber irgendwann war Madeline imstande, ins Leben zurückzukehren, und sie nahm die Trauer einfach mit. Über den Tod eines geliebten Menschen wird man nie ganz hinwegkommen, aber man kann versuchen, ihn in das eigene Leben zu integrieren, statt es ihm anheimfallen zu lassen. Dafür gibt es allerdings keinen festen Zeitplan und erst recht kein Wundermittel. Julia wird wie Madeline ihren Weg selbst finden müssen.
»Was sollen wir tun?«, flüstert Hannah ihr zu.
Madeline überlegt, ob sie Julia in den ersten Stock tragen können, entscheidet dann aber, dass das Sofa im Wohnzimmer praktischer ist. Sie machen es ihr dort bequem, dann kehren sie in die Küche zurück, wo Madeline die Zwiebelsuppe fertig kocht.
»Meinen Sie, es geht ihr bald wieder besser?«
Madeline nickt, damit Hannah nicht beunruhigt ist, aber sicher ist sie sich nicht. Sie will Julia nicht wecken, weil sie daran zweifelt, dass sie seit Joshs Tod vernünftig geschlafen hat. Wenn das Herz nicht heilt, kommt auch der Geist nicht zur Ruhe – das weiß Madeline nur allzu gut. Das macht ihr auch keine Sorgen. Madeline hat vor langer Zeit gelernt, dass der schlimmste Begleiter des Todes die Schuldgefühle sind, und davon schleppt Julia eine Menge mit sich herum. »Sie braucht nur etwas Schlaf – wir lassen sie besser in Ruhe.«
Der Sturm ist abgeflaut, und jetzt regnet es nur noch. Hannah hilft Madeline, den Topf auszukratzen. »Sie gießen ein wenig Wasser hinein«, erklärt sie Hannah, »damit lösen Sie das, was auf dem Boden und an der Seite haftet, und rühren es in die Suppe. Man nennt das Deglacieren.«
»Deglacieren«, wiederholt Hannah gehorsam und hält dabei fachmännisch den Kochlöffel.
»Dann machen Sie das Gleiche noch einmal mit Sherry statt Wasser – das hebt den Geschmack hervor.«
Madeline schiebt das Blech mit den Baguettescheiben in den Backofen, dann
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