Je sueßer das Leben
vielleicht aber auch nicht. Es könnte die Aufmerksamkeit des gesamten Landes auf die kleine Stadt, auf Edie ziehen. Die Wahrscheinlichkeit ist gering, ja, aber man muss nur an Benson, Minnesota denken, das noch weniger Einwohner als Avalon hat. Ein kleiner Bericht über die Energiegewinnung aus Truthahnjauche schaffte es bis in die New York Times . Ein Bericht in der Chicago Tribune über einen zehnsekündigen Tornado in Utica, Illinois, brachte dem Reporter einen Pulitzer-Preis ein. Warum sollte es also ein Bericht aus Avalon nicht schaffen? Und warum sollte nicht Edie diejenige sein, die ihn verfasst?
Verschiedene Schlagzeilen schießen ihr durch den Kopf. Sie sieht schon, wie sie von den großen Nachrichtenagenturen aufgegriffen werden: AP, UPI, Reuters. Und natürlich die Verfasserzeile.
Von Edith Gallagher.
Vielleicht macht sie ja mehr Aufhebens davon, als die Geschichte wert ist, aber sie ist eine gute Journalistin. Sie weiß, dass sie einen Artikel verfassen kann, der wie eine Bombe einschlägt, wenn sie nur das richtige Thema hat. Verschwundene Gartenzwerge und Grillabende werden ihr da nicht gerade weiterhelfen – das weiß sie. Aber es gibt viele bekannte Journalisten, an deren Karriereanfang eine einzige gute Geschichte stand, und hinter der ist Edie her.
Als sie sich der Main Street nähert, sieht sie einen dieser riesigen Ford F650. So einen gibt es ihres Wissens in Avalon nicht, was bedeutet, dass er aus einer der umliegenden Ortschaften gekommen sein muss. Auf der Ladefläche ist ein großes Löschrohr montiert, bereit, Tausende Liter Schaumkonzentrat zu verteilen. Auf der anderen Straßenseite hat sich eine kleine Schar Neugieriger versammelt, überwacht von Polizisten, die auch den Verkehr umleiten. Sie sieht zwei Männer in Schutzanzügen, die vermutlich zu dem ABC -Spezialteam gehören und sich fertig machen, das Revier zu stürmen.
Das ist das mit Abstand Aufregendste, was in Avalon passiert ist, seit sie hergezogen sind. Edie hofft zwar inständig, dass niemand zu Schaden kommt und sich die Sache als falscher Alarm entpuppt, ist aber überzeugt, dass der Vorfall mindestens eine Woche lang die Titelseite der Gazette beherrschen wird.
Ohne auch nur ein Detail zu kennen, überlegt Edie bereits fieberhaft, wie sie den Artikel anpacken könnte, irgendetwas über die Zerbrechlichkeit des Lebens und dass wir auf dieser Welt einander brauchen und uns gegenseitig beistehen müssen. Sie mag zwar nicht die Geschickteste sein, was Beziehungspflege angeht, aber für das Gute weiß sie sich einzusetzen. Deshalb hatte sich Edie ja auch für das Friedenskorps gemeldet und siebenundzwanzig Monate in Benin verbracht. Sie wollte echten Menschen helfen. Diese zweieinhalb Jahre haben ihr die Augen geöffnet.
Sie ist gerne Amerikanerin, aber im Ausland Amerikanerin zu sein ist etwas völlig anderes. Edie hat gelernt, sich und ihr Land durch die Augen anderer zu sehen – durch die Augen der freiwilligen Helfer aus Europa und Asien, durch die Augen der Leute, denen sie zu helfen versuchten. Sie weiß, dass man Amerikaner oft für arrogant und oberflächlich hält, ahnungslos, selbst was das eigene Land betrifft, und sie muss zugeben, dass das leider stimmt.
Edie erinnert sich noch gut an den Abend, als sie und zwei andere Amerikaner ein Ratespiel gegen drei Schweden verloren. Das Thema: amerikanische Geschichte. Die Schweden – Vilde, Max und Frej – wussten besser über die US -Regierung Bescheid als sie: Sie konnten die Präsidenten nennen, ihre Amtszeiten und wie die Präsidentschaften endeten. Edie und ihre Kollegen, von denen einer in Vassar im Hauptfach Geschichte studiert hatte, schlugen sich zwar wacker, wurden am Schluss aber in Grund und Boden gestampft. Den Todesstoß versetzte ihnen dann die Bonusfrage, die ihnen die Schweden anboten und bei der es um alles ging, nämlich eine Tafel Hershey-Schokolade und eine Dose Pringles.
Wie heißt der amtierende Präsident von Schweden?
Sie verloren.
Als Edie später Richard davon erzählte, musste er so sehr lachen, dass ihm die Tränen über die Wangen liefen. »Edie«, sagte er. »Schweden ist eine parlamentarische Monarchie. Sie haben einen König als Staatsoberhaupt.«
Edie schämte sich zwar, aber gleichzeitig hatte sie die Bestätigung für das, wovon sie schon immer überzeugt war. Die Welt ist groß, und jeder trägt die Verantwortung dafür, dass sie besser wird, auch Edie. Und dazu ist eigentlich nicht viel nötig, wenn man es recht bedenkt.
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