Je sueßer das Leben
Familie gelegentlich auch gelacht wurde. Wenn Hannah einmal Pause vom Üben machen und Albert mit den Nachbarskindern draußen spielen wollte, statt zu lernen, erlaubte ihnen ihre Mutter das. Ihr Vater? Nie. Er klagte immer, seine Frau sei viel zu nachgiebig den Kindern gegenüber, was aber gar nicht stimmte. Sie gestattete ihnen nur hin und wieder ein bisschen Freizeit, so dass sie wenigstens annähernd so etwas wie eine Kindheit hatten.
Hannah hatte bemerkt, dass ihr Vater ihrer Mutter nachgab, wenn diese auf etwas beharrte. Das konnte eine größere Sache sein, zum Beispiel wenn sie Verwandten helfen wollte, die sich in einer finanziellen Notlage befanden, oder etwas völlig Unbedeutendes wie Weihnachten feiern.
Jahrelang hängten sie nur einen langweiligen Plastikkranz an die Tür, mehr um ihrer Nachbarn als um ihrer selbst willen. Keine Lichter, kein Schmuck, kein Baum. Sie und Albert bekamen jeder ein, zwei Geschenke, und das war alles, bis Hannah neun wurde. Da beschloss ihre Mutter plötzlich, dass Weihnachten mit allem Drum und Dran gefeiert werden müsste. Sie wohnten damals in North Carolina und erlebten ihre erste weiße Weihnacht.
»Wir gehen jetzt und kaufen einen Baum« , rief ihre Mutter ihrem Vater auf Chinesisch zu, als sie mit den beiden viel zu dick eingepackten Kindern zur Garage ging.
»Shenme?« Hannahs Vater kam aus dem Arbeitszimmer gestürmt, wo er einen Vortrag vorbereitete. »Nein! Kommt nicht in Frage! Ein Baum ist viel zu teuer! Wir brauchen keinen Baum!«
»Wir brauchen sehr wohl einen Baum!« , stellte Hannahs Mutter kühl fest und streifte ihre Handschuhe über. »Und eine Lichterkette besorge ich auch. Wenn wir zurück sind, kannst du sie aufhängen.« Sie würde nicht nachgeben, so viel war auch Hannahs Vater klar.
»Nächstes Jahr« , schlug er als Kompromiss vor. Albert verdrehte hinter dem Rücken seines Vaters die Augen. »Gleich nach Weihnachten kaufen wir alles ein, wenn es herabgesetzt ist. Dann besorgen wir einen Plastikbaum und ganz viel Weihnachtsschmuck.«
»Wir kaufen einen echten Baum« , sagte ihre Mutter. »Und wir kaufen ihn dieses Jahr. Ich will, dass die Kinder ein richtiges Weihnachten haben. Albert ist schon beinahe ein Teenager, und Hannah wird zehn. Dieses Jahr wird Weihnachten gefeiert.« Mit diesen Worten marschierte sie aus dem Haus, die Kinder im Schlepptau.
Vier Stunden später waren sie zurück, das Auto bis unters Dach gefüllt mit Weihnachtsschmuck, von dem Hannah nicht geglaubt hätte, ihn jemals bei ihnen zu Hause zu sehen. Zum ersten Mal bekamen sie und Albert einen Nikolausstrumpf. Albert schien keinen großen Wert darauf zu legen, aber Hannah war begeistert. Sie war auch begeistert, dass ihr Vater mit Hammer und Nägeln auf die Leiter stieg, als sie nach Hause kamen. Hannah wusste nicht, ob dem ein größerer Streit vorangegangen war, von dem sie nichts mitbekommen hatte, aber ihre Mutter machte einen ungeheuer selbstzufriedenen Eindruck, als sie ihm die sechs Schachteln mit Lichterketten reichte. Nachdem er sie befestigt hatte, ging er los und kaufte fünf weitere Schachteln, mit der lahmen Erklärung, dass die Läden bereits anfingen, die Preise zu senken, und man sie deswegen genauso gut jetzt kaufen könnte. Hannahs Mutter sagte nichts dazu, sondern bereitete zum Abendessen huoguo – Feuertopf –,das Lieblingsessen ihres Vaters, das es normalerweise nur gab, wenn Gäste kamen.
Hannah weiß, dass die Ehe ihrer Eltern nicht perfekt war, aber irgendwie funktionierte sie. Man konnte sich die beiden nicht ohne einander vorstellen, und als ihre Mutter starb, war für sie klar, dass ihr Vater nicht wieder heiraten würde, was er auch nicht tat. Vielleicht ist Hannah ihm ähnlicher, als sie zugeben würde – wenn sie einmal ja zu jemandem gesagt hat, bleibt sie ihm treu.
Philippe ist ihr Ehemann. Sie hat gedacht, dass sie ihr Leben lang zusammenbleiben, zusammen auf Tournee gehen, zusammen spielen, zusammen alt werden. Hannah versucht sich vorzustellen, wie sie beide mit siebzig sind. Sechzig. Selbst fünfzig, aber es geht nicht. Es kommt ihr nur das Bild in den Sinn, wie sie jetzt sind. Aber was bleibt jetzt, da sie nicht mehr beide Musiker sind? Was haben sie eigentlich noch gemeinsam?
Schnell geht sie zum Anrufbeantworter und hört ihn ab. Die erste Nachricht stammt von ihrem Kreditkartenunternehmen. Verärgert löscht Hannah sie. Die zweite Nachricht stammt von ihrem Nachbarn Henry Tinklenberg, der sich für das Freundschaftsbrot
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