Jede Sekunde zählt (German Edition)
immer wieder zu gewinnen und dadurch die Krankheit in Grund und Boden stampfen. Ich kann den Menschen das eine sagen, was ich mit Sicherheit über Krebs weiß, und das ist, dass sie nicht alleine sind: Die Krankheit ist so groß, so weit verbreitet, so alltäglich, dass sie unzählige Menschen trifft – Freunde, Verwandte, Kollegen, Kommilitonen, Mitschüler. Im Grunde genommen kann ich eigentlich nur versuchen, ihnen zu helfen.
Hin und wieder aber übersteigt selbst das meine Fähigkeiten. Es gibt Momente, in denen ich schlicht nicht weiß, was ich zu jemandem sagen soll, in dessen Körper gerade der Krebs wütet. Im September 2001 wurde ich ins Weiße Haus eingeladen, um für eine intensivere Krebsforschung und zusätzliche Ressourcen und Finanzmittel zu werben. Vor der Präsentation arrangierte ein Beamter des Weißen Hauses ein privates Treffen mit einem an der Hodgkin-Krankheit leidenden Journalisten von der St. Petersburg Times, der sich zu der Zeit gerade einer Chemotherapie unterzog. Paul de la Garza, so sein Name, hatte nach seiner Diagnose von einem Freund eine Ausgabe von Tour des Lebens geschenkt bekommenund daraufhin die Tour de France im Fernsehen mitverfolgt. Als er hörte, dass ich zu einer Veranstaltung zugunsten der Krebsforschung ins Weiße Haus kommen würde, hatte er über eine Kontaktperson ein Treffen mit mir arrangieren lassen. »Wer wäre, dachte ich«, schrieb er später über unser Treffen, »besser geeignet, mich seelisch und moralisch aufzubauen, als der bemerkenswerteste Krebsüberlebende der Welt?«
Dabei bin ich keineswegs bemerkenswert; ich bin wie jeder andere auch, und wenn Sie mich im falschen Moment erwischen, kann es sein, dass ich zu nichts zu gebrauchen bin. Nachdem man uns bekannt gemacht hatte, wurden wir zu unserem Gespräch in ein kleines Vorzimmer geführt. Leider war der Terminkalender im Weißen Haus an diesem Tag überaus eng und das Protokoll sehr rigide. Abgesehen davon, dass uns wenig Zeit zum Reden blieb, war ich angesichts der Tatsache, gleich mit dem Präsidenten der Vereinigten Staaten zusammenzutreffen, ziemlich aufgeregt. Während mir einige Dinge zum Signieren, Poster und Zeitschriften, gereicht wurden, bemühte ich mich, möglichst aufmerksam zuzuhören.
Zu Beginn stellte de la Garza mir einige sehr konkrete Fragen über seinen Krebs und was sich da machen lasse und was nicht. Ich suchte nach Antworten. Da ich leider nicht die 100000-Euro-Antwort auf jede Krebsfrage habe, gab ich ihm die Antwort, die ich in solchen Fällen immer gebe und von deren Richtigkeit ich auch zutiefst überzeugt bin: Suchen Sie die besten Ärzte, die Sie finden können, und vertrauen Sie ihnen auf Teufel komm raus.
»Wie kann ich den Krebs überleben?«, fragte er.
»Hören Sie auf Ihre Ärzte«, lautete meine aufrichtige Antwort. »Sorgen Sie dafür, dass Sie die beste Behandlung bekommen.«
Ein Ratschlag, der für ihn, wie er später in einem Artikel über das Gespräch schrieb, »nicht gerade eine Offenbarung« gewesen sei.
Sein linker Arm schmerzte, seine Venen brannten, und auch andere Körperteile rebellierten gegen die Chemotherapie. Wasvor allem aber rebellierte, war sein Geist. Er hatte noch sechs Chemotherapie-Zyklen vor sich, und jede neue Runde schwächte ihn mehr. Ich wusste genau, was er durchmachte – die Übelkeit, der Geschmack nach Zinn im Gaumen. Zum Teufel, ich kann das Zeug noch heute riechen. Er war demoralisiert und hatte sich von dem Treffen mit mir mehr erhofft.
»Wie soll ich überleben, wenn ich den Gedanken an noch eine Infusion in meinem Arm nicht mehr ertragen?«, hakte er nach.
»Die Qualen sind Teil des Besserungsprozesses«, sagte ich. »Sie müssen sie willkommen heißen.«
Was ich damit meinte, war: Die Qualen sind das Heilmittel. Weil sie ein Ausdruck dessen sind, was einen möglicherweise rettet, muss man sie willkommen heißen. Man kann mit seinem Geist jede Erfahrung verändern – wie wir einen bestimmten Moment erleben, darüber bestimmt jeder von uns alleine. Konzentration und Glauben können selbst eine Chemotherapie, und mag sie noch so furchtbar sein, in eine positive Erfahrung verwandeln. Das verlangt Übung, ja, aber es ist machbar. Wenn ich mich übergeben musste oder es beim Wasserlassen wie Feuer in der Harnröhre brannte, redete ich mir immer ein, dass diese Empfindungen anzeigten, dass der Krebs meinen Körper verließ. Ich pisste ihn heraus, ich kotzte ihn heraus, ich hustete ihn heraus. Ich hatte keine Lust, mich mit
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