Jede Sekunde zählt (German Edition)
zeigen, wozu ein ganz gewöhnlicher Mensch imstande ist.«
Das Erste, was ich tat, um meinen Tour-Sieg zu verteidigen, war, meinem Leben um ein Haar selbst ein Ende zu setzen.
Die Welt ist voller Leute, die sich Selbstvertrauen kaufen oder fabrizieren wollen oder die schlicht so tun, als ob sie es hätten. Aber Selbstvertrauen kann man nicht vortäuschen, man muss es sich verdienen, und der einzige Weg dorthin führt, wenn Sie mich fragen, über harte Arbeit. Man muss arbeiten, und genauso ließ sich die 2000er-Kampagne auch an, mit harter, mörderischer Arbeit.
Anfang Mai zog das U.S. Postal Team zu einer Reihe arbeitsintensiver Trainingslager durch die Alpen und Pyrenäen. Wenn ich mich an die Schmerzen gewöhnte, meinen Körper nach Kräften malträtierte und ausreichend arbeitete, so die Theorie dahinter, dann würde es vielleicht während der Tour nicht so sehr weh tun. Wir fuhren die Routen ab, die wir auch bei der Tour fahren mussten, und analysierten die einzelnen Etappen.
Die 87. Tour de France führte in 23 Tagen über 3652,5 Kilometer entgegen dem Uhrzeigersinn durch Frankreich. Ein widersinniges Unterfangen, ich weiß, aber andererseits stand der Tour de France schon bei ihrer Geburt ein höchst bizarres Ereignis Pate: In der Frühzeit des Industriezeitalters lobte eine französische Tageszeitung einen Preis für denjenigen Verrückten aus, der schneller als andere Verrückte auf dem Fahrrad eine Rundfahrt durch das ganze Land absolvierte. Dass das Ereignis von Anfang an durch Betrügereien, Unfälle und Absurditäten überschattet wurde, tat seiner wachsenden Popularität keinen Abbruch, und über die Jahre hinweg stieg die Tour de France zu einem landesweit gefeierten, nationalen Sportereignis auf.
Nach amerikanischen Maßstäben ist das Radrennen ein eigenartiger Sport, geprägt von einem fremden Ethos und einem komplizierten Kodex, in dem es ebenso viele ungeschriebene wie geschriebene Regeln gibt. Genau genommen handelt es sich dabei um eine Art Hochgeschwindigkeits-Schach auf Rädern, bei dem es mit darauf ankommt, die Route vorab auszukundschaften.
Während des Rennens spielten die einzelnen Mitglieder des Postal-Teams jeweils unterschiedliche Rollen. Einige davon, daruntermein enger Freund Kevin Livingston, waren starke Kletterer, deren Job es war, mir durch die Berge zu helfen, mich in ihrem Windschatten fahren zu lassen und bei den Aufstiegen mitzuziehen. Andere wie George Hincapie, einer meiner besten Freunde, sollten mir bei den Sprints auf den flachen Etappen helfen. Die meisten meiner Teamkollegen, Leute wie Hincapie, Tyler Hamilton oder der Russe Wjatscheslaw Ekimow, waren jeder für sich herausragende Fahrer und hatten selbst das Zeug, große Rennen zu gewinnen. Dass sie sich für mich so hart ins Zeug legten, war ein Beweis dafür, wie extrem ernst sie ihre Aufgabe nahmen. Dann gab es noch die jüngeren und weniger erfahrenen Fahrer, die so genannten »Domestiken«, deren Job es war, alles zu machen, angefangen damit, mich gegen andere Fahrer abzuschirmen, bis dahin, mich je nachdem mit Essen, Getränken oder Ersatzteilen zu versorgen.
Unser Sportdirektor, oder directeur sportif, war Johan Bruyneel, ein ehemaliger Radrennfahrer aus Belgien, dem seinerzeit der Ruf eines Favoritenkillers vorausgeeilt war; Bruyneel hatte Induraín einmal bei einer berühmten Touretappe den Tagessieg weggeschnappt. Er hatte ruhige, graue Augen mit einem festen Blick, eine Kinnspalte und war jemand, den nichts so leicht aus der Ruhe brachte. Als unser Sportdirektor besaß er schier unerschöpfliche Geduld, ein Talent für das Aufstellen von Rennplänen, und er widmete akribisch jedem Detail seine Aufmerksamkeit. Er war es, der auf diesen Trainingscamps bestand und dafür sorgte, dass wir uns mit der Strecke vertraut machten.
Stunde um Stunde, Tag um Tag fuhren wir auf unseren Rädern durch den europäischen Frühling. Anfang Mai schwankte das Wetter in den zerklüfteten Pyrenäen zwischen eisiger Kälte und drückender Hitze, und auf der Abfahrt von einem dieser verlassenen Gipfel hätte ich die Tour beinahe schon verloren, bevor sie überhaupt begonnen hatte.
Wir hatten gerade den Col du Solour erklommen und wollten eine extrem schnelle und möglicherweise sehr wichtige Abfahrtüben. Beim Aufstieg wurden wir von der Sonne regelrecht verbrannt. Ich nahm meinen Helm ab und hängte ihn an den Lenker. Oben angekommen pausierte ich kurz. Nachdem einer der Mechaniker ein paar Anpassungen an meinem Lenker
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