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Jede Sekunde zählt (German Edition)

Jede Sekunde zählt (German Edition)

Titel: Jede Sekunde zählt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lance Armstrong , Sally Jenkins
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vorgenommen hatte, stieg ich wieder aufs Rad, duckte mich hinter den Lenker und jagte den Berg hinunter. Mein Helm hing immer noch am Lenker, ein unverzeihlicher Fehler.
    Die Straße war eng und wand sich steil in ein Tal zu meiner Rechten hinunter. Auf der Bergseite wurde sie durch eine Steinmauer begrenzt. Ich konzentrierte mich voll auf die Kurven, und ohne Geschwindigkeit zu verlieren, nahm ich Kurve um Kurve, genoss den Rhythmus... und fuhr mit dem Vorderrad über einen Stein.
    Der Reifen platzte.
    Urplötzlich wackelte mein Lenker wie verrückt, als wollte ihn mir jemand mit aller Gewalt aus den Händen reißen. Wenn dir bei Tempo 70 ein Vorderreifen platzt, kannst du nicht mehr lenken. Was Sekunden vorher noch ein 2,5 Zentimeter dicker Hochleistungs-Gummireifen gewesen war, der eine stabile Zentrifugalkraft erzeugt hatte, war nun zerfetztes Gummi auf einer flachen Karbonfelge. Das Rad schlingerte wie wild, und mein Vorderrad hielt unaufhaltsam auf die Steinmauer zu. Wenn ich es gerade halten kann, dachte ich, kann ich vielleicht ausreichend abbremsen, um...
    Die Mauer raste viel zu schnell auf mich zu. Unmittelbar vor ihr war ein Graben. Mein Vorderrad kippte nach unten weg, ich wurde vom Rad katapultiert – und knallte mit dem Kopf frontal gegen die Mauer. Es war, als würde die Sonne mit einem Schlag explodieren und der Himmel entzwei brechen.
    Benommen und blutend lag ich im Graben. Als Johan, der im Begleitwagen hinter mir fuhr, um die Kurve kam, sah er mich in einer Blutlache neben der Straße liegen. Ich hatte eine tiefe Platzwunde am Kinn, mein Kopf war angeschwollen, und ich selbst kaum bei Bewusstsein. Ich hatte den gesamten Aufprall mit dem Kopf aufgenommen. Seltsamerweise hatte ich nirgendwo sonstauch nur den kleinsten Kratzer. Noch nicht einmal meine Radhose hatte ein Loch.
    Ich hörte, wie Leute angerannt kamen. Dann hörte ich ein paar Stimmen – Johan und zwei Leute, die ich nicht kannte. Wie der Zufall es wollte, hatten zwei frankokanadische Ärzte gerade im Gras vor der Steinmauer gepicknickt und völlig entgeistert mit angesehen, wie ich in den Graben gerast und mit dem Kopf gegen die Wand geknallt war.
    Ich wollte mich aufrichten. »Non, non« , rief einer der Ärzte und drückte mich wieder zu Boden. Der andere sprang auf und rannte zu ihrem Auto, um Eis zu holen, das sie mir dann auf den Kopf legten. Ich war bei Bewusstsein und hatte die Augen geöffnet, konnte aber nicht über den Graben hinaussehen. Ich erinnere mich noch, dass ich Johan mit den beiden Ärzten sprechen hörte.
    »Wissen Sie«, sagte einer der Ärzte, »als wir ihn sahen und den Aufprall hörten, waren wir überzeugt, dass wir herüberkommen und einen toten Mann finden würden.«
    Irgendwann muss ich bewusstlos geworden sein. Ich weiß noch, dass ein Krankenwagen kam und mich aus den Bergen hinunter in das Krankenhaus in Lourdes brachte. Es war das erste Mal seit meiner Krebserkrankung, dass ich als Patient wieder in ein Krankenhaus eingeliefert wurde, und als die Hecktür aufgerissen wurde und ich den Geruch von Medizin und Desinfektionsmitteln einatmete, überfiel mich dieses furchtbare und rasende Gefühl in meiner Brust, das ich so gut kannte.
    Mit ein paar Stichen wurden die Wunden an meinem Kopf und am Kinn genäht. In dieser Nacht, die ich zur Beobachtung im Krankenhaus bleiben musste, machte ich kein Auge zu. Die ganze Zeit über spürte ich den Matratzenbezug aus Plastik unter den Bettlaken, die bald schon völlig von meinem Schweiß durchnässt waren.
    Am nächsten Morgen flog ich zurück nach Nizza, wo Kik mich am Flughafen abholte. Mein Kopf fühlte sich mindestens dreimal so groß an wie normalerweise, meine Augen waren blauschwarzunterlaufen und dick angeschwollen und mein Gesicht voller Kratzer und Schnitte. Kik schnappte nach Luft, als sie mich sah.
    »Du siehst aus wie der Elefantenmensch«, meinte sie.
    Wochenlang saß ich zu Hause auf dem Sofa. Unfähig, auch nur für das Training aufs Rad zu steigen, wartete ich darauf, dass mein Kopf so langsam wieder Normalgröße annahm. Ich hatte viel Zeit zum Nachdenken und gelangte zu der Überzeugung, dass ich mir keine idiotischen Fehler mehr leisten oder unnötige Risiken eingehen durfte. Ich liebte es, Berge hinunterzujagen, und ich liebte es, mich in die Kurven zu legen. Aber nun beschloss ich für mich, dass es in Ordnung sei, bei einer Abfahrt 30 Sekunden zu verlieren. 30 Sekunden konnte man wieder aufholen.
    Schließlich fing ich ganz vorsichtig wieder

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