Jede Sekunde zählt (German Edition)
gearbeitet, wieder in Form zu kommen, aber nun war er wieder da und hungrig, und hungrige Männer sind gefährlich. Pantani, ein drahtiger Mann mit scharfen Gesichtszügen und einem rasierten Schädel, um den er gern ein Piratentuch band, war auf eine andere Art hungrig. Nach einem Dopingskandal hatte er die letzte Tour aussetzen müssen und kämpfte nun darum, seinen Ruf in der Radrenngemeinde wiederherzustellen.
Dann gab es noch einen dritten Gegner, den Kurs. Drei Kraft zehrende Gebirgsstrecken, drückende Hitze, Staub, Schlamm, strömender Regen, von den winzigen Hotelzimmern in abgelegenen Dörfern ganz zu schweigen.
Das Rennen wurde mit einem Prolog eingeläutet, einem 16,5 Kilometer langen Sprint durch das Futuroscope, ein mittelalterliches Themenpark-Dorf. Der Prolog, der im Grunde genommen dazu dient, das Feld der 200 Fahrer auszusortieren und festzustellen, wer an der Spitze mitfahren wird, endete mit einer Überraschung: Ich wurde Zweiter hinter dem Briten David Millar. Millar war ein guter Freund von mir und ein abenteuerlustiger Rennfahrer, der jedes Jahr Silvester in einem anderen Land verbrachte. Am Ende lag er mit einer Zeit von 19:03 zwei Sekunden vor mir. Als die Ergebnisse über Lautsprecher durchgegeben wurden, brach David in Tränen aus. So enttäuscht ich von mir selbst war, so sehr freute ich mich für ihn. In dieser Nacht schlief David im Gelben Trikot.
Auf den Prolog folgte eine Reihe von flachen, ereignislosen Etappen, die ebenso schnell wie nass waren. Von Tours über Limoges bis Dax fuhren wir praktisch jeden Tag durch pausenlos strömenden Regen. Meine Aufgabe beschränkte sich für den Moment darauf, mich aus Schwierigkeiten herauszuhalten und bis zum Beginn der Berge im Rennen zu bleiben.
Die Berge markieren für einige Fahrer den Beginn des eigentlichen Rennens – und für viele sein Ende. Im Vergleich dazu war alles andere ein Gerangel um einen kleinen Vorteil hier, eine Sekunde da. Die Berge sind, sagen die Franzosen, »die Essenz des Radfahrens und die Essenz des Dramas«. Hier kommen die wirklichen, die wahren Unterschiede ans Tageslicht. Wenn es noch einen letzten Gipfel zu bezwingen gibt, dann erweist sich als der Stärkste, wer schneller als alle anderen den Anstieg erklimmt. Ich liebe die Berge.
Die erste Bergetappe dieser Tour führte in das Bergdorf Hautacam hinauf.
Der Morgen der Etappe begrüßte uns mit einem eiskalten Regen.Ich sprang aus dem Bett, zog die Vorhänge zurück und brach in lautes Lachen aus. »Perfekt«, sagte ich. Das war ein Wetter zum Leiden, ein Wetter, das einen Haufen Leute schon besiegt hat, wenn sie am Morgen aufstehen und aus dem Fenster schauen. Der Anstieg nach Hautacam würde stürmisch und neblig werden, genauso wie an dem Tag, als ich den Berg zweimal hintereinander hinaufgefahren war. Es war die perfekte Generalprobe gewesen.
An der Startlinie konnte ich die Fahrer im Peloton ausmachen, die den Tag schon jetzt verfluchten. Sie fürchteten die Schmerzen, und man konnte förmlich spüren, wie diese Angst einige von ihnen schon besiegt hatte, bevor sie auch nur im Sattel saßen. Sie fluchten vor sich hin, ließen die Köpfe im Regen hängen und warfen dem Himmel böse Blicke zu. Ich fühlte mich bereit. »Das wird ein Tag am Strand«, versprach ich meinen Teamkollegen. »Lasst uns in die Gänge kommen.«
Was nicht heißen soll, dass es ein Spaziergang wurde. Der peitschende Regen ließ einfach nicht nach, und nach gerade einmal 50 Kilometern überraschte ein zäher spanischer Fahrer namens Javier Otxoa das Feld mit einem erfolgreichen Ausbruch. Otxoa fuhr einen gewaltigen Vorsprung heraus, den er den ganzen Tag über auch halten sollte. Keiner von uns setzte ihm nach, alle schonten ihre Kräfte für die Anstiege.
Der lange Tag ging uns in die Knochen, und einer nach dem anderen fielen meine Teamkameraden zurück, die mir bis zu diesem Punkt sozusagen als Startstufen gedient und mich nach vorne gezogen hatten. Irgendwann war ich mit einer Hand voll anderer Fahrer allein.
Als wir uns dem Anstieg nach Hautacam näherten, saßen wir bereits vier Stunden im Sattel und hatten 190 Kilometer und zwei Bergpässe hinter uns. Vor uns lag ein monströser letzter und steiler, 13 Kilometer langer Anstieg mit einer durchschnittlichen Steigung von 7,9 Prozent – umgerechnet also 7,9 Höhenmeter pro 100 Streckenmeter.
Ich fuhr in einer Gruppe mit Ullrich, Pantani und dem Schweizer Alex Zülle, der im letzten Jahr Zweiter geworden war und mich, wie
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