Jede Sekunde zählt (German Edition)
mit dem Training an. Der Sturz hatte mich davon abgehalten, den vielleicht wichtigsten Tourabschnitt in den Pyrenäen zu erkunden, einen Anstieg namens Hautacam. Hautacam ist ein bekannter Skiort auf einem nebelverhangenen Berg in der Nähe von Lourdes und war die erste und wohl auch eine der schwierigsten Bergetappen der diesjährigen Tour de France.
Also kehrte ich zurück. Es war sehr windig und bedeckt, und ich fuhr dieselbe Strecke ab, die wir später im Rennen fahren würden, nur dass es dieses Mal keine Zuschauer gab und ich mit Ausnahme von Johan im Begleitfahrzeug alleine unterwegs war. Ich erreichte den Fuß des Berges. Ich stellte mich in die Pedale und nahm den steilen Anstieg in Angriff. Die ganze Zeit über analysierte ich die Straße, versuchte die Stellen auszumachen, an denen ich später attackieren konnte, und solche, wo ich besser daran tat, meine Kräfte zu schonen. Durch heftigen Schneeregen kämpfte ich mich nach oben, mein Atem eine weiße Dunstwolke in der kalten Bergluft.
Nach ungefähr einer Stunde erreichte ich die Passhöhe. Johan fuhr neben mich und streckte den Kopf aus dem Fenster. »Okay, gut«, sagte er. »Steig ins Auto und trink einen heißen Tee.« Ich zögerte. Ich war mit meinem Aufstieg ganz und gar nicht zufrieden.
»Ich hab’s nicht«, meinte ich.
»Was meinst du, du hast’s nicht?«
»Ich hab’s nicht. Ich verstehe den Aufstieg nicht.«
Eine Bergetappe kann eine komplizierte Angelegenheit sein. Ich hatte das Gefühl, den Anstieg nicht durchschaut zu haben. Ich war den Berg hinaufgefahren, aber ich wusste immer noch nicht, wie ich mir den Anstieg einteilen musste. Bei solchen Erkundungsfahrten kam es mir darauf an, das Gefühl zu haben, den Berg so gut zu kennen, dass er mir später vielleicht helfen würde.
»Ich habe nicht das Gefühl, ihn zu kennen«, sagte ich. »Er ist nicht mein Freund.«
»Wo liegt das Problem?« Johan sah mich an. »Du bist oben, lass uns gehen.«
»Wir müssen zurück und noch mal hoch.«
Für den ersten Aufstieg hatte ich eine Stunde gebraucht, hinunter ins Tal dauerte es eine halbe Stunde, und dann eine weitere Stunde ohne Pause für den zweiten Aufstieg. Dieses Mal, am Ende des Tages, als ich im strömenden Regen oben ankam, hatte ich das Gefühl, den Aufstieg gemeistert zu haben. Auf dem Gipfel kam Johan mit einer Regenjacke auf mich zu. »Ich glaub’s nicht, ich glaub’s einfach nicht«, sagte er. »Aber jetzt reicht es. Wir fahren nach Hause.«
An diesem Abend schickte ich die physiologischen Daten von den beiden Aufstiegen an meinen Trainer Chris Carmichael. Jeden Tag nach dem Training nahm ich mir die Ausdrucke von dem kleinen, auf meinem Rad montierten Computer vor, der meine Wattzahl, meinen Energieaufwand, meine Tretfrequenz und meine Herzfrequenz aufzeichnete. Diese Zahlen sagten mir, wo die Strecke mich am meisten und wo sie mich am wenigsten gefordert hatte. Ich hatte es mir zur Gewohnheit gemacht, die Werte per E-Mail an Chris zu schicken, der sie dann analysierte und mit Kommentaren versehen an mich zurückschickte.
An diesem Abend öffnete Chris die Datei und nahm meine Werte unter die Lupe. Am anderen Morgen rief er mich an. »Siehtnach einem harten Tag aus, sieben Stunden in dem Wetter. Aber deine Kraft war immer noch beeindruckend«, sagte er. »Nur eine Sache. Ich glaube, die Datei ist beschädigt worden. Die Zahlen sehen irgendwie komisch aus.«
»Wieso komisch?«, wollte ich wissen.
»Ich habe zwei Zahlenreihen«, gab er zurück.
»Das ist richtig.«
»Du bist den Berg zweimal hoch?«
»Yeah.«
Einen Moment lang herrschte Stille.
Dann sagte er: »Du kranker Arsch.«
Bei der Tour 2000 ging ich mit einer auf meinen Rücken gepinselten Zielscheibe an den Start. Zumindest hatte ich das Gefühl, dass es so war.
Das Fahrerfeld war so stark besetzt wie schon seit Jahren nicht mehr, und alle hatten es auf mich abgesehen. Mein Sieg bei der Tour 99 sei, hieß es, ein Glücksfall gewesen, weil damals zwei der allerbesten Fahrer gefehlt hätten. Dieses Mal aber standen der Deutsche Jan Ullrich und der Italiener Marco Pantani, die Toursieger von 1997 beziehungsweise 1998, die im Vorjahr gefehlt hatten, wieder mit an der Startlinie. Das Feld war, wie es aussah, voller Champions.
Ullrich war von der körperlichen Anlage her der wohl beste Radrennfahrer der Welt, ein großer, extrem muskulöser Kerl, der große Gänge kurbelte. Er hatte die 99er-Tour aufgrund von Verletzungen absagen müssen und hart daran
Weitere Kostenlose Bücher