Jede Sekunde zählt (German Edition)
einige meinten, geschlagen hätte, wäre er nicht bereits früh im Rennen unglücklich gestürzt. Unmittelbar vor uns lagen der von seinen Landsleuten mit Begeisterung gefeierte Franzose Richard Virenque und der Spanier Fernando Escartín. Und wir alle machten Jagd auf Otxoa.
Unsere Gruppe hatte kaum den Fuß des Berges erreicht, da richtete sich Pantani auf und griff an. Er zog nach innen und beschleunigte. Zülle reagierte sofort und setzte ihm nach... und ich ebenfalls. Einen Moment lang musste ich kämpfen, um nicht zurückzufallen, und dachte, Oh nein, ich bin geliefert. Dann fiel Zülle ab, und ich setzte mich vor ihn. Ich schlug ein Tempo ab, das schnell genug war, um jedem weh zu tun, der mithalten wollte.
Ich warf einen Blick über die Schulter. Zülle war verschwunden. Nun gab es nur noch Pantani und mich. Ich musste aufpassen und meine Kraft einteilen. Am Berg konnte man sich, wie Zülle gerade erst bewiesen hatte, mit unbedachten Eskapaden leicht selbst ein Bein stellen.
Wir erreichten eine Steigung, die ich vom Frühjahr her noch gut im Kopf hatte. Pantani war unmittelbar vor mir. Okay, Baby, jetzt werd ich dir mal Feuer unterm Arsch machen, dachte ich, richtete mich im Sattel auf und stieg in die Pedale. Mein Rad machte praktisch einen Satz nach vorn, und ich lag vor Pantani. Johan meldete sich per Funk und sagte: »Er leidet. Er fällt von deinem Hinterrad ab.« Ich warf einen raschen Blick über die Schulter und sah ihn langsam zurückfallen. Beim nächsten Blick zurück hatte er den direkten Kontakt zu mir schon verloren.
Ich flog den Berg förmlich hinauf. Ich hatte nicht nur meine Beine für den Aufstieg nach Hautacam trainiert, ich hatte auch meine Mimik und meine Haltung trainiert. Ich wollte, dass die anderen Fahrer in meiner Haltung auf dem Rad Stärke sahen. Es hat etwas Niederschmetterndes an sich, wenn man einen anderen Fahrer scheinbar mühelos an sich vorbeiziehen sieht, während manselbst leidet. Das Einzige, woran man erkennen konnte, wie hart ich mich schinden musste, war das Beben meiner Nasenflügel.
Als ich die Ziellinie überquerte, hatte ich die Führung im Gesamtklassement übernommen. Ich hatte den Tag als 16. begonnen, über sechs Minuten hinter dem Träger des Gelben Trikots, und nun lag ich in Führung.
Ullrich, Pantani, Virenque, Zülle und Escartín lagen mindestens sieben Minuten hinter mir. Pantani, 10:34 Minuten hinter mir, ging ohne ein Wort zu seinem Wohnwagen und knallte die Tür zu. Virenque schüttelte den Kopf und meinte bloß: »Armstrong zog davon wie ein Flugzeug.«
Ein Fahrer allerdings war an diesem Tag besser als ich: Otxoa. Er hielt durch bis zum Finish und holte sich mit 42 Sekunden Vorsprung den Tagessieg. Ich hatte über zehn Minuten gegen ihn gutgemacht, für die letzte, die entscheidende Minute jedoch hatte meine Kraft nicht mehr gereicht. Dennoch war ich alles andere als enttäuscht; Otxoa hatte ein großes, mutiges Rennen gefahren, ein Rennen, das meinen Beifall verdient hatte. Und außerdem, ich hatte, was ich wollte: die Führung im Gesamtklassement und das Gelbe Trikot.
Es war ein guter Tag, ein großer Tag, und vielleicht ein Tag, der die anderen Fahrer demoralisierte. Manche meinten sogar, ich hätte das Rennen gesprengt. Selbst Ullrichs Teammanager Walter Godefroot orakelte: »Wenn Armstrong keinen schwachen Tag hat, wird er in Paris gewinnen. In der Form kann niemand ihn besiegen.«
Aber das Rennen war noch nicht vorüber. Jede einzelne der großen Bergetappen konnte mir das Genick brechen, und die anderen Fahrer würden nicht aufgeben, bis wir in Paris waren. Ich hatte gelernt, nichts als gegeben zu nehmen, und als Johan an diesem Abend beim Essen fragte, ob jemand Champagner wollte, mahnte ich zur Zurückhaltung: »Champagner gibt es erst, wenn wir in Paris gewinnen. Und bis Paris ist es noch weit.«
Die Wahrheit war, ich wusste nicht, ob ich eine zweite Solofahrt dieser Art noch parat hatte. Solche Anstrengungen brennen einen von innen her aus, und man kann sie einfach nicht beliebig oft wiederholen. Das wussten auch die anderen Fahrer, und ich wusste, dass sie versuchen würden, mich zu isolieren und zu erschöpfen.
Die 12. Etappe sollte, wie es aussah, eine entscheidende Etappe werden: 149 Kilometer mit einem Schlussanstieg hinauf auf den Mont Ventoux, einen trostlosen Gipfel, der ungefähr eine Stunde vor Marseille über der Provence thront. Der Ventoux war der härteste Anstieg dieser Tour, überhaupt jeder Tour, bei der er
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