Jede Sekunde zählt (German Edition)
gefahren wird. 22 Kilometer vor der Ziellinie rollt man noch auf knapp 275 Metern über dem Meeresspiegel dahin, am Ende dann steht man auf einem 1912 Meter hohen Berggipfel. Der Ventoux sieht noch nicht einmal aus wie ein Berg, eher wie eine Mondlandschaft. Und vor allem: Der Ventoux ist ein im wahrsten Sinne des Wortes mörderischer Berg.
Einige der berühmtesten Bergetappen in der Geschichte der Tour führten auf den Ventoux hinauf, und er war auch Schauplatz einer der großen Tragödien der Rundfahrt. Bei der Tour 1967 war der britische Radrennfahrer Tommy Simpson unter einer glühenden Sonne vor Erschöpfung von seinem Rad gefallen. Zuschauer bedrängten ihn aufzugeben, aber Simpson sagte, sie sollten ihm zurück auf sein Rad helfen. Er schwang sich wieder in den Sattel und nahm den Gipfel erneut in Angriff. Doch kurz vor der Zielankunft brach er ein zweites Mal zusammen und starb. Später wurden Aufputschmittel in seinem Blut gefunden. Der Ventoux ist ein gefährlicher, schwieriger und Furcht einflößender Gegner.
Zu Beginn der Etappe mussten wir gegen den mistral anfahren, ein stürmischer Nordwind, der das Tal der Rhône herunter- fegt. Der Wind traf uns von vorn und pfiff über unsere Schultern. Nach drei langen Stunden endlich erreichten wir den Ventoux, wo die Temperatur mit einem Mal auf unter vier Grad Celsius fiel.
Der Anstieg selbst war ungefähr 21 Kilometer lang – durch Windböen mit bis zu 65 km/h hinauf auf einen windumtosten Berggipfel. Die ersten paar Kilometer sondierte Pantani das Feld, suchte beharrlich nach einer Möglichkeit, einen Vorsprung herauszufahren. Er spurtete los, ließ sich wieder zurückfallen, trat wieder an, fiel wieder zurück.
Ungefähr fünf Kilometer vor dem Ziel, wir näherten uns gerade dem Gedenkstein für Tom Simpson, stieg ich in die Pedale und zog an Pantani vorbei. Während ich das tat, wandte ich mich um.
» Vince!« , sagte ich mit meinem bisschen Italienisch, was so viel bedeuten sollte wie: »Komm! Zieh mit!«
Mein Absicht war es, ihn zu motivieren, ihn einzuladen, mit mir zu fahren. Ich wollte ihm zur Ziellinie helfen, ihm den Etappensieg überlassen. Warum? Weil ich damals der Meinung war, dass Pantani den Sieg verdient hatte. Er hatte ein langes und hartes Jahr hinter sich, in dem er darum gekämpft hatte, sein durch einen Dopingskandal ramponiertes Selbstwertgefühl wiederherzustellen. In meinen Augen gehörte er zu den interessantesten Figuren im Radsport, ein Paradiesvogel, ein Abenteurer in einem grellpinken Radanzug, einem Kopftuch und einem Ohrring. An diesem Tag war er immer wieder zurückgefallen und hatte sich ein ums andere Mal wieder nach vorne gekämpft. Ich respektierte seinen Einsatz, und mir schien es nur gerecht, wenn ein großartiger Kletterer wie er den Ventoux gewann, zumal ich nach fast zwei Wochen auf der Straße einen Vorsprung von zehn Minuten hatte und es mir leisten konnte, als Zweiter durchs Ziel zu gehen.
Andere Sportarten kennen eine solche Einstellung nicht, aber bei der Tour ist das nichts Ungewöhnliches, im Gegenteil, es steckt sogar eine besondere Art von Ehrbegriff dahinter. Als Träger des Gelben Trikots Etappen zu gewinnen, die man nicht gewinnen muss, gilt als Affront gegenüber den anderen Fahrern, die für ihre Karriere und ihr Einkommen auch auf Siege angewiesen sind. Alle Fahrer haben Leistungsklauseln in ihren Verträgen stehen, und darüber hinaus ist ein Etappensieg für sich alleine eineprestigeträchtige Sache. Manchmal ist es die Rolle des Führers im Gesamtklassement, den Grand Seigneur zu geben, sprich, großzügig zu sein. Das war etwas, was ich von Induraín gelernt hatte, der von 1991 bis 1995 fünfmal in Folge die Tour gewonnen hatte. Man macht sich keine Freunde, wenn man jeden Tag gewinnt. Im Peloton fahren 200 Fahrer, die ohne Ausnahme hart arbeiten. Jeder von ihnen verdient Anerkennung für seine Leistung, und am Ende eines Tages, an dem man sich die zehn Prozent Steigung den Mont Ventoux hinauf bis aufs Dach der Provence gequält hat, einen Anstieg hinauf, der einmal einen Fahrer das Leben gekostet hat, gibt es keine Verlierer.
Aber Pantani verstand mich falsch. Er dachte, ich hätte » Vitesse« gesagt, also »Schneller«. Es war Auslegungssache: » Vitesse« wäre eine Beleidigung gewesen, so als würde ich ihm sagen, er sei zu langsam, er solle mir aus dem Weg gehen. Pantani dachte, ich wollte ihn provozieren.
Seite an Seite kämpften wir uns gegen den stürmischen Wind auf die Ziellinie
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