Jede Sekunde zählt (German Edition)
zu. Ich musste mich entscheiden: Sollte ich sprinten und versuchen, als Erster ins Ziel zu kommen, oder sollte ich, die Gesamtführung sicher in der Tasche, ihm den Etappensieg überlassen? Ich beschloss, nicht zu kämpfen. Eine Pedalumdrehung vor der Ziellinie ließ ich ihm den Vortritt.
Für mich zählte nur, dass ich den Vorsprung gegenüber meinem schärfsten Verfolger Jan Ullrich um 31 Sekunden ausgebaut hatte.
Aber als ich Pantani die Etappe überließ, hatte ich etwas getan, was gegen meine Natur war. Induraín konnte den Sieg jemand anderem überlassen, und die Leute konnten es auch annehmen. Aber als ich am Ventoux Pantani den Vortritt ließ, war Pantani außer sich vor Wut. Er hatte das Gefühl, von mir gönnerhaft behandelt worden zu sein.
»Als Armstrong mir sagte, ich solle schneller fahren, wollte er mich wohl provozieren«, meinte er hinterher. »Wenn er glaubt, dass wir miteinander fertig wären, hat er sich gewaltig geirrt.«
Das wiederum brachte mich auf die Palme. »Leider hat er uns jetzt sein wahres Gesicht gezeigt«, schnappte ich vor der Presse zurück. Dazu nannte ich ihn noch in aller Öffentlichkeit »Elefantino«, ein Spitzname, den er seinen groß geratenen Ohren verdankte, die unter seinem Kopftuch herausragen. Er hasst diesen Spitznamen von ganzem Herzen.
Das war der Beginn einer Fehde, die bis zu Pantanis Ausscheiden aus der Tour anhalten sollte. Als er ein paar Tage später auf einer Bergetappe davonzog und sich den Tagessieg ohne meine Hilfe holte, machte er hinterher unmissverständlich klar, dass er meinen Sinn für Großzügigkeit nicht respektierte. »Es ist weitaus befriedigender, allein durchs Ziel zu fahren«, giftete er. »Der Sieg schmeckt anders, wenn man alle anderen hinter sich lässt. Er schmeckt nach Triumph.«
Spätestens jetzt bereute ich meine Großzügigkeit am Mont Ventoux, jetzt fing sie an, an mir zu nagen. Auch mein Freund Eddy Merckx, der legendäre fünfmalige Toursieger aus Belgien, schalt mich einen Idioten. »Das war ein großer Fehler«, sagte er. »Der stärkste Fahrer muss den Ventoux gewinnen. Den Ventoux schenkt man niemals her. Wer weiß, ob du jemals wieder die Chance erhältst, ihn nochmals zu gewinnen!« Ich war überzeugt, der stärkste Fahrer gewesen zu sein, aber meine Gefühle hatten mich verwirrt. Sollte ich jemals wieder in die Lage kommen, Pantani ein Geschenk machen zu können, dachte ich, dann wird er es nicht bekommen.
Die nächsten fünf Tage war ich wütend und unkonzentriert. Aber Wut ist ein Gefühl, das nur kurz motiviert; auf Dauer kann sie einen nicht im Sattel halten, und oft geht sie, wie in meinem Fall, auf Kosten des Urteilsvermögens. Zuerst gab ich mich dem Gefühl voll hin, und dann ließ ich mich auch noch von einem Streit ablenken. Weder das eine noch das andere bekam mir sonderlich gut.
Vor uns lag die letzte Bergetappe, der letzte gefährliche Teil der Tour. Es war eine vergleichsweise kurze, aber anspruchsvolleStrecke, die über 196,5 Kilometer von Courchevel nach Morzine über einen Berg namens Joux-Plane führte. Die Etappe gehörte zu der Sorte, die einen einlullen konnte; da sie nicht besonders lang war, war man versucht zu glauben, das Rennen würde schon nicht so anspruchsvoll werden. Falsch. Kurze Etappen sind schneller, daher manchmal auch härter.
Pantani griff praktisch sofort an. Sein Ziel war es, mich zu ködern – und er schaffte es auch, mich zu einem der schlimmsten Fehler meiner Karriere als Radrennfahrer zu verlocken. »Ich wollte die Tour ohne Rücksicht auf Verluste zum Platzen bringen«, gestand er später ein.
Pantanis Angriff setzte unser Team unter Druck, und Johan und ich hielten über Funk ständig Kontakt und diskutierten über die beste Strategie. Wie weit sollten wir Pantani davonziehen lassen? Ich hatte eine Mordswut im Bauch und wollte an diesem Tag vor allem eins: Pantani schlagen. Es entspann sich eine gnadenlose Jagd. Auf 80 Kilometern fuhr Pantani voraus und ich hinterher.
Aber wir fuhren großartig, und ich fühlte mich gut auf dem Rad. So gut, dass ich meine letzte Chance, etwas zu essen, verpasste und, ohne mir groß Gedanken zu machen, an einer Verpflegungsstelle vorbeijagte. Ein Leichtsinnsfehler, ein für einen Profi unverzeihlicher Fehler, aber ich beging ihn. Wir waren so sehr mit Pantani und Taktik beschäftigt, dass ich das Allereinfachste vergaß. Nicht eine Sekunde dachte ich daran, welche Folgen es haben konnte, wenn ich nicht genug aß.
Noch vor dem Anstieg auf
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