Jede Sekunde zählt (German Edition)
und verfolgten das Rennen im Fernsehen. Anfangs sah keiner von ihnen, dass ich langsamer wurde. Doch dann fiel ich zuerst von der Spitze und dann immer weiter zurück. Ullrich und die anderen fingen an, richtig Zeit gegen mich gutzumachen. Plötzlich machte sich anstelle des fröhlichen Geplauders im Wohnwagen Verwirrung breit. Jemand sagte, »Oh mein Gott, was ist denn jetzt los?«, und dann herrschte Schweigen, entsetztes Schweigen.
Ich konnte inzwischen nicht mehr klar denken. Ich war so dehydriert, dass meine Körpertemperatur verrückt spielte. Ich fröstelte. Meine Glieder fühlten sich hohl an, leer. Leer, leer, leer. Ein Sonntagsfahrer auf einem Dreigangrad hätte mich überholen können.
In der Menge, die vom Straßenrand aus mitverfolgte, wie ich mich den Berg hinaufquälte, stand Bart Knaggs. Inzwischen gab es nicht mehr viel im Leben, was Bart und ich, gemeinsam mit unserem besten Freund College, nicht zusammen durchgemacht hätten. Wie ich bereits sagte, man definiert sich zum Teil in Bezug zu anderen Menschen, und Bart und College waren bei einer Reihe der Ereignisse, die mich als Mensch definierten, an meiner Seite. Sie waren bei mir, als mir ein Arzt mein wahrscheinliches Todesurteil mit den Worten in die Hand drückte, dass ich, selbst wenn ich überleben sollte, aus dem Krankenhaus kriechen würde. Sie saßen nach meiner Gehirnoperation neben mir am Krankenbett. Bart und seine Frau, Eltern von Zwillingstöchtern, standen uns als enge Vertraute zur Seite, als Kik und ich die künstliche Befruchtung machen ließen, aus der Luke hervorging.
Bart, College und ich waren auf unseren Rädern zahllose Meilen durch das texanische Hügelland gefahren, hatten gelacht, Unsinn gemacht oder einfach über Gott und die Welt geredet. Ichliebte es, sie beim Radfahren aufzuziehen, eine Weile neben ihnen herzufahren und dann plötzlich davonzuschießen. Aber wenn wir nicht gerade irgendwelchen Unsinn trieben, halfen wir einander, wo immer wir konnten. Eines Tages fuhren wir eine außergewöhnlich lange Tour nach Wimbley und zurück, Meile um Meile über den Highway, hinauf und wieder hinunter. Bart hatte irgendwann genug und nahm eine Abkürzung nach Hause, aber College versuchte, an mir dranzubleiben. Er hielt sich ziemlich gut, bis er in Dripping Springs auf den Hungerast geriet. Sein Körper übersäuerte, und er erlitt einen Schwächeanfall. Ich gab ihm eine Cola, und das half ihm ein wenig, aber nicht lange. Als Nächstes schrie ich ihn an, er solle sich gefälligst an mein Hinterrad hängen, und das half ebenfalls eine Weile. Aber dann, nicht einmal zehn Kilometer von Zuhause, konnte er kaum mehr die Pedale drehen. »Ich kann nicht mehr«, schrie er zurück. »Natürlich kannst du«, brüllte ich nach hinten. Dann fing ich an zu lachen und rief: »Mann, wenn du dich jetzt sehen könntest!« Blass und weiß im Gesicht hing er zusammengesunken über dem Lenker. Als wir auf dem Rückweg nach Austin die letzten großen Hügel nahmen, legte ich meine Hand auf seinen Rücken und schob ihn den Anstieg hinauf.
Nicht lange danach bekam ich Krebs. Dennoch versuchte ich, weiter meine Touren auf dem Rad zu machen, und Bart und College begleiteten mich dabei. Schwach, wie ich war, waren nun sie es, die mich im Staub stehen lassen konnten. An einem Nachmittag nach meiner dritten Chemo wollte ich (damals war ich kahl und dünn) eine Runde Rad fahren. Eigentlich hätte ich im Bett bleiben müssen, aber ich kann ein ziemlicher Dickkopf sein, und schließlich ließen Bart und College sich überreden. Wir hatten gerade einmal fünf, sechs Kilometer hinter uns, als wir an einen Hügel kamen. Ich wollte, aber ich hatte keine Kraft mehr. »Ich schaff es nicht, Leute«, sagte ich. »Ich muss umdrehen.«
College kam zu mir her, legte eine Hand auf meinen Rücken und schob mich den Hügel hinauf. Ich musste fast heulen, so sehr fühlte ich mich erniedrigt. Gleichzeitig aber war ich froh über dieHilfe. So halfen wir drei uns, so waren wir füreinander da. Was du gibst, das bekommst du auch. Manchmal brauchen wir alle jemanden, der uns unter die Arme greift. Auch wenn du der bist, der immer die anderen den Hügel hinaufschiebt, irgendwann wird der Tag kommen, an dem du eine Hand brauchst, die dich anschiebt. Vielleicht ist man, wenn man jemandem hilft, einfach ein bisschen mehr, wer man sein könnte.
Das hier war ein weiterer prägender Moment in meinem Leben. Am Joux-Plane starrte Bart, der mich besser kannte als irgendjemand
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