Jede Sekunde zählt (German Edition)
den Joux-Plane hinauf schlossen wir zu Pantani auf. Bald darauf fiel er mit Magenschmerzen immer weiter zurück und kam am Ende mit einem Rückstand von 13 Minuten ins Ziel. Aber er hatte erreicht, was er sich vorgenommen hatte: meinen Tag zu ruinieren.
Schließlich erreichten wir den Fuß des Berges. Gezogen von Kevin Livingston, ging ich den Anstieg scharf an. Nach und nach fielen die anderen Fahrer zurück, unfähig, unser Tempo zu halten.
Dann waren es nur noch Kevin und ich, und schließlich fiel auch Kevin, völlig ausgepowert, zurück.
Plötzlich war ich allein. Und plötzlich fühlte ich mich auch gar nicht mehr so gut. Zuerst war da diese bezeichnende Müdigkeit in den Beinen, gefolgt von einem Leeregefühl im Magen. Ich hatte kein Wasser, kein Essen, keine Proteinriegel, nichts – und keine Möglichkeit, mir etwas bringen zu lassen.
Ich konnte regelrecht spüren, wie mir die Energie aus dem Körper strömte.
Virenque und Ullrich schlossen auf... und zogen einfach an mir vorbei.
Anfangs versuchte ich noch, mich an sie ranzuhängen und mich durch den Schmerz hindurchzuzwingen, aber unweigerlich wurde ich langsamer... und noch langsamer.
Nicht lange, und ich hatte das Gefühl, als würde ich rückwärts den Berg hinunterrollen.
Ullrich und Virenque drehten sich überrascht um. Ich konnte sehen, was sie dachten. »Was macht er da? Will er uns bluffen?« Vor kurzem erst hatte ich mich scheinbar mühelos von ihnen abgesetzt, und jetzt? Ich hatte Probleme, und um das zu sehen, reichte ein Blick in mein Gesicht.
Noch zehn Kilometer bis zum Ziel, aber mir kamen sie vor wie 100 Kilometer. Johan meldete sich per Funk – ich verlor Tempo, und er wusste ganz genau, was los war. Als ehemaliger Radrennfahrer wusste er, was passieren konnte, wenn ein Fahrer einbrach. Dass ich die Führung verlieren könnte, war noch nicht einmal seine größte Angst. Er hatte Angst, dass ich schlicht kollabieren, das Handtuch werfen, die ganze Tour hier und jetzt verlieren würde.
Obwohl er den Druck gefühlt haben muss, blieb er ganz ruhig, wenn er per Funk mit mir sprach. Nicht genug damit, dass ich schwächelte, bei ihm im Auto saß an diesem Tag ein VIP-Gast, der belgische Premierminister. »Mach dir keine Sorgen, du hast einen guten Vorsprung«, redete er beruhigend auf mich ein. »Du kannst es dir leisten, ein bisschen davon abzugeben.«
Das Beste, riet er mir, wäre es, Tempo rauszunehmen, mich langsam den Berg hinaufzuarbeiten und den Verlust zu begrenzen. Auf keinen Fall dürfte ich jetzt versuchen, nochmals zuzulegen und dabei riskieren, alle meine Reserven aufzubrauchen und ganz auf null abzufallen. Das ist nämlich der Moment, wenn die Leute körperlich schlapp machen, wenn sie seitwärts vom Rad fallen.
Jede Umdrehung der Pedale schwächte mich mehr und brachte mich weiter in den roten Bereich. Es war eine Frage des Brennstoffs, der Kalorien, oder richtiger gesagt des Mangels an Kalorien.
Diese Art der Auszehrung kann seltsame Dinge bewirken. Mit dem Körper macht auch der Geist schlapp.
Du fängst an zu schielen, der Schnee wird schwarz. Du halluzinierst. Du versuchst, durch die Ohren zu sprechen. Oder du steigst einfach vom Rad. Du rollst an den Straßenrand und hältst an, weil du die Pedale einfach nicht mehr bewegen kannst.
Und wenn du vom Fahrrad steigst, dann bist du am Ende, dann bist du draußen aus dem Rennen – ein Punkt, von dem ich an diesem Tag gar nicht weit entfernt war.
Ich habe Fahrer erlebt, die in solchen Situationen – keine Kraft mehr in den Beinen und einen langen, harten Anstieg vor sich – zehn oder sogar 15 Minuten verloren haben. Ich habe Fahrer sabbern sehen. Ich habe Fahrer zusammenbrechen sehen, Fahrer, die danach nie mehr dieselben waren. Nun war die Reihe an mir. Tritt um Tritt baute ich ab. Es war mein schlimmster Tag in einem Rennen.
Ich wusste nicht mehr so recht, wo ich war oder was ich hier verloren hatte. Einer meiner wenigen vernünftigen Gedanken war: Ein Vorsprung von siebeneinhalb Minuten ist viel, verlier ihn nicht ganz.
Johan redete in einem fort auf mich ein, sagte immer und immer wieder das Gleiche. »Entspann dich einfach, fahr dein Tempo, dräng dich nicht. Du kannst eine Minute verlieren, zweiMinuten, drei Minuten, vier Minuten, und alles ist in Ordnung. Alles, nur nicht anhalten.«
Oben im Ziel saßen Bill Stapleton und ein paar Freunde, die herübergekommen waren, um mich Radfahren zu sehen, in einem VIP-Luxuswohnwagen. Sie nippten Wein und aßen Snacks
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