Jede Sekunde zählt (German Edition)
Rad.«
»Nein! Du Bastard! Wir haben den gottverdammten 1. Dezember! Wie lange sitzt du schon im Sattel?«
»Seit dreieinhalb Stunden.«
»Du Bastard!«
Wenn man mich fragte, wann ich mit den Vorbereitungen für die nächste Tour anfing, lautete meine Antwort: »Am Morgen danach.« So wie ich das sehe, wird die Tour nicht im Juli gewonnen. Man muss auf dem Rad sitzen, wenn andere Leute dazu nicht bereit sind.
Das hieß aber auch, dass es so etwas wie eine Off-Season für mich nicht gab. Ich verbrachte vier Monate pro Jahr in Austin, vom Herbst bis nach Weihnachten, und da ich nicht so häufig in den Staaten war, gab es in dieser Zeit immer viel zu viel zu tun, zu viele Leute, die ich treffen musste, zu viele Wünsche, die erfüllt sein wollten. Im Grunde genommen war es eine Erleichterung, wenn im Februar die Radsaison wieder begann und wir nach Europa zurückkehrten.
In Europa trainierte ich mit einer meditativen Konzentration für meine Arbeit. Es war vereinsamend, aber auch eine Zuflucht, keine Ablenkungen und weniger potenzielle Probleme. Es vereinfachte alles.
Unser neues Zuhause in Gerona war endlich fertig, und ich freute mich dieses Jahr darauf, nach Europa zurückzukehren und ein paar ruhige Wochen mit meiner Familie zu genießen.
Die Handwerker hatten fantastische Arbeit geleistet und die modrigen, verfallenen Zimmer in eine weiträumige, großzügige Suite verwandelt. Vor den vom Boden bis zur Decke reichenden Terrassenfenstern hingen purpurfarbene Portieren, und die alten Säulen waren frisch vergoldet. In dem kleinen, klosterartigen Garten plätscherte unter aus dem 12. Jahrhundert stammenden Steinbögen und Simsen ein Brunnen. Ryan Street, ein befreundeter Architekt, hatte eine moderne, mit allen Annehmlichkeitenausgestattete Wohnung mit vier Schlafzimmern geschaffen, ohne dabei die Atmosphäre und den Grundriss der alten Räume zu zerstören. Die Kapelle war ein Prunkstück, auch die Türen mit den Farbglas-Sprossenfenstern unter den gotischen Spitzbögen strahlten in neuem Glanz. Über dem Altar hing ein wunderschönes religiöses Gemälde aus dem 15. Jahrhundert mit einer auf Holz gemalten Kreuzigungsszene, das ich für Kik gekauft hatte.
Bevor aber Kik mit den Kindern nachkommen konnte, brauchten die Mädchen noch Reisepässe. Luke hatte bereits einen, mit einem Foto seines winzigen Babygesichts. Er hatte geschrien, als das Bild gemacht wurde, deshalb sah sein Gesicht auf dem Bild wie ein rotes »O« aus, und selbst der griesgrämige französische Zöllner musste lächeln, als er es sah.
Um Kik die Reise mit den Kindern, dem Hund und der Katze möglichst einfach zu machen, buchte ich einen privaten Charterflug für sie. Statt Flüge wechseln und sich mit einem Doppelkinderwagen durch den Zoll quälen zu müssen, wie sie es üblicherweise tat, ging Kik mit den Kindern durch ein privates Terminal und flog in etwas über acht Stunden direkt von Austin nach Gerona. Natürlich hätten wir beide es vorgezogen, wenn ich mit dabei hätte sein können, aber unter den gegebenen Umständen war das alles, was ich für sie tun konnte.
Ich hatte mich längst in Gerona verliebt, eine Stadt, die Karl der Große einstmals erobert hatte, die dann später aber wieder von den Mauren zurückerobert worden war. Ich wurde es niemals leid, durch die eleganten Arkaden zu schlendern oder die gotische Kathedrale zu besichtigen, hinter der sich Ruinen erhoben und sich die verrücktesten, in den verschiedenen Zeitaltern angelegten Gärten erstreckten.
Als Kik in der Wohnung ankam, waren unsere Sachen aus Frankreich bereits eingetroffen, und alle Möbel standen an ihren Plätzen. Ihre Reaktion fiel so aus, wie ich es mir erhofft hatte: Nach einer kurzen Tour durch die riesigen Räume mit ihren hohen Decken verkündete sie, sie seien »fürstlich«. Das war etwasganz anderes als der Umzug mit der auf das Dach ihres Renault geschnallten Matratze vor einigen Jahren.
Kik liebte die Geschichte und die Eleganz der Altstadt von Gerona, das Kopfsteinpflaster, die Bogengänge, die steinernen Pforten. Da sie nie zuvor mitten in einer Stadt gewohnt hatte, war es für sie eine neue Erfahrung, zum Einkaufen mit dem privaten Aufzug einen Stock hinunter ins Erdgeschoss zu fahren und mit kurzen Gängen alles besorgen zu können, was sie brauchte. Sie liebte es, über die Ramblas zu schlendern und in den vielen Spezialitätengeschäften nach Brot, Tee oder Meeresfrüchten zu stöbern. Wollte sie nicht aus dem Haus gehen, bestellte
Weitere Kostenlose Bücher