Jede Sekunde zählt (German Edition)
50000 Dollar an Preisgeldern kommen. »Und obendrauf packe ich dann noch einen Lance-Bonus«, versprach ich. »Aber um das zu schaffen, musst du dich konzentrieren, musst du aufhören, dir um irgendetwas anderes Sorgen zu machen. Deine Familie, Schulden, Geld, Stress, das alles musst du vergessen. Du musst dich ganz und gar auf diese eine Sache konzentrieren.«
Das sei leichter gesagt als getan, entgegnete Floyd.
»Vergiss es«, wiederholte ich. »Fahr einfach Rad – verdammt noch mal.«
Dabei war ebender Ratschlag, den ich Floyd gab – konzentriere dich unter Ausschluss von allem anderen allein auf das Radfahren –, der Punkt, mit dem ich selbst damals am meisten zu kämpfen hatte.
Ständig wog ich die Kosten eines Berufs, der so aufreibend ist wie der eines Straßenradrennfahrers, gegen die Pflichten eines jungen Familienvaters auf. Wie einen Ausgleich schaffen zwischen den beiden? Meine Rolle als guter Vater beinhaltete für mich, meiner Familie ein möglichst gutes Leben zu bieten, möglichst viel aus der kurzen Zeit herauszuschlagen, in der ich als Radprofi ganz oben an der Weltspitze mitfuhr. Auf der anderen Seite drohte mit dem beruflichen Erfolg persönliches Versagen, wenn das Radfahren auf Kosten der Familie ging.
Für Floyd jedoch war das zu dieser Zeit die richtige – und einzig mögliche – Entscheidung. Im Leben gibt es nicht viele eindeutige Wegmarken, aber hin und wieder gelangt man an einen solchen Scheidepunkt und muss eine Entscheidung treffen. Entweder macht man weiter wie bisher, oder man versucht es anders – und besser – zu machen. Man muss in der Lage sein, einen solchen Moment zu erkennen und das Heft in die Hand zu nehmen, mit dem Risiko, dass man später sagen muss: »Das war der Moment, an dem ich alles hätte anders machen können.« Wer bereit ist, den scheinbar schwierigeren Weg zu gehen, hat die Chance, sein Leben neu zu gestalten. Hier war Floyds Moment gekommen, der Moment, in dem er alles anders, besser machen konnte, und ich wollte, dass er das begriff.
Floyd war einverstanden, und die nächsten Wochen trainierten wir gemeinsam. Er ging mit mir zum Höhentraining nach St. Moritz. Gemeinsam unternahmen wir Erkundungsfahrten der Etappen der diesjährigen Tour. Wir saßen zahllose Stunden nebeneinander im Sattel, und von Tag zu Tag verstand Floyd ein bisschenbesser, was ich mit Professionalität gemeint hatte. Er lernte, sich zu konzentrieren, die Fähigkeit, sich auch von wichtigen äußeren Dingen nicht ablenken zu lassen und sich voll auf das Radfahren zu fokussieren. Er lernte Entschlossenheit.
Ich hatte die Tour de France niemals als ein Rennen betrachtet, das zu gewinnen ich die Fähigkeit hatte, bevor Johan Bruyneel mir sagte, dass ich das Zeug dazu hätte. Ich erinnere mich noch genau an den Moment, damals, 1998, als er mir das sagte. Johan war gerade zum sportlichen Leiter des Postal-Teams ernannt worden und ich zum neuen Teamchef. Ich hatte die Folgen meiner Krankheit überwunden, fuhr aber immer noch eher zurückhaltend. Kurz zuvor hatte ich die Spanienrundfahrt, ein über drei Wochen laufendes Etappenrennen, als Vierter abgeschlossen. Johan hatte mich das ganze Rennen über aufmerksam beobachtet.
Kurz vor den Weltmeisterschaften in Holland dann trat Johan zu mir in mein Hotelzimmer und kam ohne Umschweife auf seine Erwartungen an mich und das Postal-Team zu sprechen. »Okay«, sagte er, »du hast in Spanien – ohne spezielle Vorbereitung und ohne dafür trainiert zu haben – einen vierten Platz herausgefahren. Du bist einfach an den Start gegangen, du hattest noch nicht einmal den Ehrgeiz, unter die ersten fünf zu kommen, und dann bist du Vierter geworden. Ich denke, nächstes Jahr müssen wir uns auf die Tour de France vorbereiten.«
»Kein Problem«, sagte ich. »Ich kann ein paar Etappen gewinnen.«
»Nein, du sollst das ganze Ding gewinnen«, gab er zurück.
Ich starrte ihn ungläubig an. Ich war zu dem Zeitpunkt einfach nur froh, wieder auf dem Rad zu sitzen und einen Job zu haben. »Ah, also, okay«, stammelte ich. »Sieh mal, ich habe gerade vor allem die WM im Kopf. Lass uns später nochmals darüber reden.«
Johan ließ die Sache vorerst auf sich beruhen, aber ein paar Tage später kam er wieder darauf zu sprechen. Traditionell trägt der Gewinner der Weltmeisterschaft als Symbol des Titelträgersdas ganze nächste Jahr über ein regenbogenfarbenes Trikot. Unmittelbar vor dem Rennen schickte Johan mir eine E-Mail. »Viel Glück«, schrieb
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