Jede Sekunde zählt (German Edition)
sie ihre Einkäufe über das Internet und ließ sie sich bis vor die Haustür liefern.
In diesem Frühjahr wurden Grace und Isabelle, die inzwischen fast sechs Monate alt waren, in der Kathedrale von Gerona getauft. Die Taufe fand abends statt, und umgeben von Kiks Eltern und einigen Freunden, standen wir in der uralten Taufkapelle. Während der auf Spanisch abgehaltenen Zeremonie machte der Priester eine Geste mit der Hand, und Luke dachte, er wollte, dass er sie schüttelte. Also marschierte er mitten in der Zeremonie schnurstracks auf den Priester zu und reichte ihm die Hand. Wir alle lachten, sogar der Priester stimmte ein.
Da die Wohnung unweit der Ramblas lag, packte Kik die Zwillinge häufig in den Doppelkinderwagen und unternahm Ausflüge durch die Altstadt. Wir schenkten Luke ein kleines Skateboard, das sich an den Kinderwagen ankoppeln ließ, und so konnte er auf dem Skateboard hinter den Mädchen herfahren. Luke fand sich wie erwartet schnell in der neuen Umgebung zurecht. Zu jedermann sagte er »Hola« und »Gracias« und »Hasta luego« und sicherte sich damit einen beständigen Strom an Keksen und anderen kleinen Leckereien. Aber in seinen Klamotten von Nike und der verkehrt herum aufgesetzten Schildmütze mit der Aufschrift University of Texas war er unverkennbar ein kleiner Amerikaner.
Ein typischer Tag sah ungefähr so aus: Ich stand um 7.00 Uhrauf, trank Kaffee und las die Zeitung – und reagierte unmutig, wenn mich jemand bei diesem Ritual störte. Als Nächstes widmete ich mich den E-Mails, die über Nacht eingegangen waren, und der anfallenden Geschäftskorrespondenz. Wenn Bill Stapleton um 9.00 Uhr morgens ins Büro kam, konnte es passieren, dass bereits 20 Nachrichten von mir in seiner Mailbox lagen. Was ich frühstückte, hing von meinem Trainingsplan und davon ab, wie viel Kalorien ich an dem Tag schätzungsweise verbrennen würde: manchmal Obst, manchmal Müsli, manchmal das Weiße vom Ei und frisches Brot. Danach ging ich mit dem Rad aus dem Haus und trainierte, je nachdem zwischen drei und sieben Stunden.
Wieder zu Hause, duschte ich, aß einen Teller Pasta und beantwortete Telefonanrufe und E-Mails, bevor ich mich zu einem Nickerchen hinlegte. Während ich schlief, bereitete Kik das Abendessen vor, meistens Fisch oder Hühnchen mit gedünstetem Gemüse. Wenn ich aufwachte, spielte ich mit den Kindern und aß zu Abend. Später lasen wir oder schauten fern, und um spätestens 10.00 Uhr lagen wir im Bett. Das war es, Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat.
Nach außen hin schien Kik zufrieden mit unserem Leben. Wenn ich vom Training nach Hause kam, kochte Pasta oder Suppe auf dem Herd, die Kinder waren allerliebst und glücklich, und wenn ich fragte, sagte Kik immer, sie habe einen guten Tag gehabt. Nur selten klagte oder protestierte sie wegen meines intensiven Trainings oder der Einsamkeit ihres eigenen Lebens in Europa, getrennt von ihren Eltern und Freunden. Ich hätte sagen können: »Ich muss Gras zum Abend essen und um sechs ins Bett«, und sie hätte geantwortet, gut, in Ordnung, und mir dabei geholfen. Sie hatte ein sonniges Gemüt und ließ negative Gedanken erst gar nicht ins Haus. Wir stritten so gut wie nie.
Im Nachhinein betrachtet wäre es vielleicht besser gewesen, wir hätten das getan. Die ersten paar Jahre war es für uns beide ein Abenteuer, das Leben eines Radrennfahrers in Europa zuleben. Doch mit der Zeit war es immer weniger ein Abenteuer, und nun, mit drei Kindern, bedeutete es, immer längere Zeiträume getrennt voneinander zu verbringen. Mit drei Kindern herumzureisen war einfach zu anstrengend, und sie in der Obhut eines Kindermädchens zurücklassen wollten wir auch nicht.
Wir reisten nicht mehr so häufig wie früher gemeinsam. Im März stand ein Eintagesrennen, Mailand – San Remo, auf dem Programm, ein Rennen, zu dem sie mich früher immer begleitet hatte. Dieses Mal blieb sie zu Hause in Gerona. Ich flog allein nach Mailand und fuhr das 300 Kilometer lange Rennen. Nach dem Rennen zog ich mir trockene Sachen an, hastete zum Flughafen und flog nach Hause. Zum Abendessen war ich in Gerona, todmüde und völlig am Ende, aber zu Hause.
Dass Floyd Landis innerhalb von drei Stunden 13 Cappuccinos trank, lag am Regen.
Nicht etwa daran, dass er das für eine gute Idee gehalten hätte.
Floyd und Dave Zabriskie, wie er ein junger Postal-Fahrer, teilten sich im Frühjahr 2002 eine Wohnung in Gerona. Seit Wochen regnete es ununterbrochen. Abgesehen
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