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Jede Sekunde zählt (German Edition)

Jede Sekunde zählt (German Edition)

Titel: Jede Sekunde zählt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lance Armstrong , Sally Jenkins
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fahren.«
    Die Daten und die Zahlen und die Details geben einem über den körperlichen Vorteil hinaus auch einen psychologischen Bonus. Jedes Mal, wenn ich einen schweren Anstieg ein zweites Mal fuhr, sagte ich mir, dass ich etwas tat, was niemand sonst tat; dass niemand in der Tour so viel gelitten und so hart gearbeitet hatte wie ich. Dieses Wissen verlieh mir insgesamt mehr Stärke.
    Dass wir auch bei schlechtem Wetter trainierten, sagte ich Floyd, liegt daran, dass kein Rennen abgesagt wird, nur weil es ein Grad über null hat und Schneeregen dir ins Gesicht peitscht. Wenn du nicht in der Kälte fährst, dann kannst du auch nicht wissen, wie das ist. Du kennst das Gefühl nicht, wenn dir die Kälte die Beine hochkriecht und sie steif werden lässt. Das gehört zu den Daten, die man nur im Sattel sitzend erheben kann.
    Den Mai verbrachten wir die meiste Zeit in den Bergen, und ich trainierte auf so großen Höhen, dass ich manchmal regelrecht eingeschneit wurde.
    Irgendwann in dieser Zeit, tief in den Bergen, ging Johan im Begleitwagen längsseits und sagte: »Vom Gipfel herunter liegt auf sechs Kilometern Schnee. Der Pass ist nicht überquerbar.«
    »Viel Schnee?«, fragte ich.
    »Von einer Lawine«, antwortete er. »Und es regnet.« »Und wenn ich weiterfahre?«
    »Das kannst du nicht.«
    »Wer sagt das?«
    Mit dieser Einstellung gewannen wir die Tour.
    Eines Tages nahm ich den La Plagne in Angriff, einen Riesen von einem Berg. Nach sechseinhalb Stunden kam ich oben an, wendete das Fahrrad und fuhr wieder hinunter. Unten angekommen, drehte ich das Fahrrad einfach um und machte mich nochmals an den Aufstieg. Ich stieg erst vom Rad, als es dunkel wurde – nach einem Tag mit über acht Stunden im Sattel.
    Der Einzige, der einem Sportler Selbstvertrauen geben kann, ist er selbst. Selbstvertrauen kann nicht entwickelt, kultiviert, motiviert oder inspiriert werden. Du ziehst es aus allem, was du bis zum Tag des Rennens getan hast, und dann, wenn du alles richtig gemacht hast, stehst du am Tag des Rennens da, schaust dir die anderen starken Fahrer an und sagst zu dir: »Ich bin bereit. Ich habe mehr getan als sie. Lasst uns an den Start gehen.«
    Genau das war aber auch der Grund, warum die Arbeit mit mir nicht immer ein Zuckerschlecken war. Johan Bruyneel und Chris Carmichael bekamen 100 Prozent von mir, und im Gegenzug wollte ich 100 Prozent von ihnen haben. Es gab Tage, da rief ich Johan vier- oder fünfmal an und sagte jedes Mal dasselbe: »Lass uns die Daten noch mal durchgehen.«
    Ich war bekannt dafür, dass ich es fertig brachte, Chris um 1.00 Uhr morgens aus dem Bett zu klingeln und zu fragen, was zum Teufel er gerade treibe. Wenn zum Beispiel in seiner E-Mail an mich mein neues Trainingsprogramm fehlt, dann will ich wissen, warum. Diese Gespräche liefen immer ungefähr nach folgendem Muster ab:
    »Warum hast du das Trainingsprogramm nicht mitgeschickt? Du hast gesagt, du hättest es fertig.«
    »Ich hab’s vergessen.«
    »Du hast es vergessen? Was soll das heißen, vergessen? Wiewürde es dir gefallen, wenn ich vergesse, bei der Tour an den Start zu gehen?«
    »Ich mach’s gleich fertig«, stöhnt Chris, quält sich mit dem Telefon in der Hand aus dem Bett und schaltet seinen Computer ein.
    »Hör zu«, sage ich zu ihm. »Letztes Jahr um diese Zeit lag meine Trittfrequenz bei 93, dieses Jahr bin ich bei 90, aber bei der gleichen Wattzahl. Was ist da los? Wir müssen das klären und außerdem die Tabellen meiner letzten zwölf Tests abgleichen mit den Werten, die ich vor zwei Jahren um diese Jahreszeit hatte...«
    Erfolge im Radrennen sind eine vergleichsweise einfache und unmissverständliche Sache. Die dahinter stehende Mathematik besitzt eine unbestechliche Klarheit: Weil alles gemessen worden war, wusste ich auf den Bruchteil genau, welche Leistung ich in einem Rennen bringen konnte. Was das Radrennen angeht, habe ich ein absolutes, unerschütterliches Vertrauen in die Daten.
    Dinge wie eine Ehe, ein Umzug oder die Rolle des Vaters dagegen sind für mich weitaus komplizierter und herausfordernder als das Gewinnen eines Radrennens. Im Mai 2001 feierten Kik und ich unseren vierten Hochzeitstag mit einem, was selten genug vorkam, romantischen Essen zu zweit in einem Restaurant in Gerona. Die paar Male im Jahr, die wir allein ohne Begleitung ausgingen, konnte man inzwischen an einer Hand abzählen.
    Der Abend war wie dafür geschaffen, in Erinnerungen zu schwelgen. Kik und ich hatten uns kennen gelernt,

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