Jeden Abend, jeden Morgen - immer!
schon nicht mehr mitzählte. Und sie musste zunehmend gegen die aufsteigende Angst ankämpfen. Sie war erschöpft und brauchte eine Pause, bevor sie erneut aufbrechen konnte. An einen Baum gelehnt, setzte sie sich auf den Boden und schloss die Augen.
Sie ärgerte sich so sehr über sich selbst, dass sie kaum einen klaren Gedanken fassen konnte. Ich Idiotin, schalt sie sich. Wie konnte ich mich bloß in diese unmögliche Lage bringen? Vermutlich hat mich noch niemand auf der Ranch vermisst. Alle Männer waren irgendwo draußen bei der Arbeit, als ich aufbrach, und da sind sie vermutlich immer noch!
Aber wenn sie zurückkamen, würde doch jemandem auffallen, dass Goldie weg war, oder? Bestimmt war Banyon intelligent genug, um zu schließen, dass sie mit der Stute ausgeritten war.
Himmel, wie konnte sie nur so blöd sein! Die Stute war offensichtlich rossig und hatte den speziellen Duft ausgesandt, der Hengste wild machte. Und dieser Hengst war ohnehin wild. Er hatte Goldies Witterung aufgenommen und war ihr nachgesetzt, kühn und unerschrocken, trotz des Menschen auf dem Rücken der Stute. Und Goldie hatte ihre Reiterin locker wie einen Sack Kartoffeln abgeschüttelt, um dem schönen Verführer zu folgen. Carly wusste genau, dass Banyon ihr einiges zu sagen haben würde, sobald sie auf dem Hof eintraf.
Falls sie dort jemals wieder eintraf. Unvermittelt liefen ihr Tränen über die Wangen. Der Nachmittag neigte sich dem Ende zu. Bald würde die Nacht hereinbrechen, und sie war mutterseelenallein hier draußen, hungrig, durstig und mit schmerzenden Gliedern. Zwar hatte sie keine Angst vor der Dunkelheit, andererseits hatte sie auch noch nie eine einsame Nacht im finsteren Wald verbracht. Gab es hier wilde Tiere? Bären, Wölfe? Ihre Unwissenheit darüber war beschämend und beängstigend zugleich.
Entschlossen wischte sie die Tränen mit dem Hemdsärmel weg. Sie musste es in einer anderen Richtung versuchen, sie konnte nicht hier sitzen bleiben und auf die Nacht und irgendwelche beutehungrigen Tiere warten.
Sie war halb aufgestanden, als sie etwas hörte. Himmel, war das eine menschliche Stimme? Ja, da war es wieder! Jemand rief ihren Namen!
“Hier bin ich!”, rief sie, so laut sie konnte.
“Carly?”, wiederholte die Stimme.
“Ja, hier!”
“Carly?”
“Ja, ja!”
“Rühren Sie sich nicht vom Fleck!”
“Nein, nein!” Ihre Knie wollten vor Erleichterung nachgeben, aber sie klammerte sich an den Baum.
Jake entdeckte sie endlich zwischen den Bäumen, und er war ebenfalls so erleichtert, dass ihm fast schwindlig wurde. Carly stand aufrecht, also war sie unverletzt. Ein Glück! Aber Goldie war nirgends zu sehen, und Jake presste die Lippen zusammen, als ihn ein fürchterlicher Wutanfall zu überkommen drohte. Er ahnte genau, was passiert war, als wäre er selbst dabei gewesen. Der schurkische Hengst hatte Goldie quasi unter Carlys Po weggestohlen. Und wieder war es eine der besten Stuten, die dem Harem dieses Verführers einverleibt worden war!
Als Carly sah, wer ihr Retter war, ging sie innerlich sofort in Verteidigungsstellung. Sie erwartete keine Milde von Banyon. Und obwohl sie eine Strafpredigt verdient hatte, würde sie sie nicht demütig hinnehmen.
“Sind Sie okay?”, fragte Jake barsch, während er absaß.
Um nichts in der Welt würde sie Banyon gegenüber zugeben, dass sie sich wie ein Häuflein Elend vorkam. Leider würde er die Tränenspuren auf ihrem Gesicht aber bemerken. “Es geht mir gut”, gab sie knapp zurück. “Und lass endlich das alberne Sie”, hörte sie sich plötzlich sagen.
“Schön, wie du willst”, erwiderte er locker, doch sein Gesicht wurde kein bisschen freundlicher. “Ich bin zwar froh, dass du dir nichts getan hast, aber glaub nicht, dass mich das hindert, dir meine Meinung zu sagen. Erstens hast du die ganze Ranch in Aufruhr versetzt. Alle suchen nach dir, und keiner von uns hatte seit heute früh etwas Nennenswertes zu essen. Was ist bloß in dich gefahren, allein auszureiten und niemandem Bescheid zu geben? Und ausgerechnet mit Goldie, du Närrin. Jetzt ist sie weg, stimmt’s? Du bist dem Hengst begegnet, sie hat dich abgeworfen und ist ihm gefolgt. Sie ist mindestens fünfzigtausend Dollar wert, und womöglich sehen wir sie nie wieder. Ich möchte wissen, was dein Dad dazu sagt.”
“Der wird sich freuen, dass ich nicht ernstlich verletzt bin, du Rüpel! Im Gegensatz zu dir findet er nicht, dass Geld das Wichtigste auf der Welt ist!”
“Wenn Geld
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