Jeden Tag ein Happy End
Blitzen erhellt. Aus den dicken, grauen Wolken ergoss sich heftiger Regen. Ich lief ein paar Meter weiter und fand Unterschlupf auf der überdachten Vortreppe eines Damenschuhgeschäfts. New Yorker Regengüsse sind meistens innerhalb weniger Minuten wieder vorüber. Zwanzig Minuten später stand ich immer noch im eisigen Wind. Zähneklappernd betrachtete ich ein Paar kompliziert geschnürte Stilettos, die eher nach einem Utensil für S&M-Spiele aussahen als nach Schuhmode.
Als ich den Blick vom Schaufenster abwandte, standen auf einmal zwei wunderschöne Blondinen in schwarzenKaschmirmänteln vor mir und sahen mich erwartungsvoll an. Das war ein Zeichen Gottes. Oder von Mike Russo. Jedenfalls war hier meine Chance, zur Biene zu werden und mal ordentlich Pollen abzustauben. Ich schenkte ihnen mein strahlendstes Joey-Tribbiani-Lächeln. Dann wurde mir klar, dass sie lediglich darauf warteten, dass ich ihnen die Tür aufhielt.
»Will der jetzt noch Trinkgeld?«, fragte die eine ihre Freundin. Nach einigen peinlichen Tanzschritten hin und her wurde klar, dass wir nicht zu dritt auf die Vortreppe passten. Ich räumte freiwillig meinen Platz und sprintete die Straße hinunter.
Ich entdeckte einen Coffee Shop und rannte hinein. Zum Glück war ich nicht völlig durchnässt. Ich wärmte mir eine Weile die Hände an einer der Espressomaschinen, während ich vor mich hin tropfte, und stellte mich dann in die Schlange. Es war bereits halb vier, und langsam wurde die Zeit knapp. Ich musste um vier wieder im Büro sein, da wir heute ein Abteilungsmeeting hatten. Wahrscheinlich ging es wieder mal darum, Kosten einzusparen. Einem nackten Mann kann man nicht in die Tasche greifen, aber sie versuchten es trotzdem immer wieder.
Innerlich verfluchte ich den Barista, der sich in Zeitlupe bewegte. In dem Moment wurde mir bewusst, dass ich mich in einer dieser Situationen befand, die ich zu meinen Gunsten nutzen sollte: Ich stand in einer Schlange. Und die bestand aus intellektuellen SoHo-Leuten, die in Kunstgalerien und Webdesignfirmen arbeiteten. Ich betrachtete die fünf Menschen, die vor mir anstanden. Wenn man das deutsche Pärchen mit dem Kinderwagen nicht mitzählte, war nur eine Frau dabei: eine rüstige Rentnerin im gelben Regenmantel.
Vielleicht hatte ich doch mehr Erfolg bei der Zulassungsstelle.Da hörte ich plötzlich eine lebhafte weibliche Stimme hinter mir. In der Ecke saß eine junge Frau mit hellbraunen Haaren, einem Schwanenhals und der Haltung einer Ballerina. Ihr gegenüber am Tisch saßen zwei Hipster, beide in Skinnyjeans und mit identischen, dunklen Brillengestellen.
»Ich war ein halbes Jahr in L. A. und habe noch dieselbe Oberweite«, verkündete sie gerade lachend. »Ich glaube aber, wenn man nach einem Jahr noch nicht mindestens einen Cup größer hat, wird man nach Arizona zwangsausgesiedelt.«
»Ich dachte, du warst in London«, sagte Hipster-Typ Nummer eins.
»Nein, das war letztes Jahr.« Sie nahm sich ein Stück von seinem Croissant.
Ihre Bewegungen wirkten so selbstbewusst, und sie hatte kluge Augen. Sie war vermutlich Creative Director bei einer Grafikdesignagentur. Vielleicht auch in einem multinationalen Architekturbüro. Sie faszinierte mich, ich wollte jedoch keine Pollen abstauben, auf die schon eine andere Biene ein Auge geworfen hatte.
Dann leckte Hipster-Typ Nummer eins dem Hipster-Typen Nummer zwei etwas Macchiato-Schaum vom Kinn.
»Könnt ihr bitte woanders rummachen?« Die L. A.-Emigrantin lachte wieder. Es war ein einladendes Lachen, als wollte sie mich damit an ihren Tisch bitten. Ich musste lediglich die geringe Entfernung von einem Meter zurücklegen und dann einer Wildfremden sagen, dass ich sie attraktiv fand. Falls ich das denn überhaupt tat. Das war wirklich schwer zu sagen, solange ich weder ihre religiösen und politischen Ansichten noch ihren Notendurchschnitt am College kannte.
Ich machte mir klar, dass das Ergebnis eines standardisierten Tests kein zuverlässiger Indikator für eine möglicheKompatibilität unserer beider Persönlichkeiten war, und entschloss mich, es einfach zu wagen. Was konnten sie und ihre Freunde mir schon tun?
Auf einmal war ich wieder zwölf und wollte Julie Kaye fragen, ob sie mit mir geht. Ich wollte damals das Ganze übers Telefon besprechen, weil uns so keiner hören würde. Ich kannte Julie, seitdem wir sechs waren. Im Laufe des Sommers hatte sie auf einmal sanfte Rundungen entwickelt und gab sich auch keinerlei Mühe, diese zu verstecken.
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