Jeden Tag ein Happy End
tippte an ihre Zehen. »Ein bisschen Dehnen und Aufwärmen wird empfohlen, bevor man ans Trapez geht.«
»Sollte man vielleicht auch schnell noch eine Lebensversicherung abschließen?«, fragte ich, während ich versuchte, auch nur in die Nähe meiner Knöchel zu kommen.
Sie lachte, und ich hätte liebend gern den ganzen Nachmittag zusammengeklappt mit dem Kopf nach unten verbracht, wenn ich ihr beim Lachen hätte zusehen dürfen. Stattdessen musste ich jedoch vollauf mit meinem journalistischen Interview beschäftigt wirken. Was auch eine ganz gute Gelegenheit darstellte, herauszufinden, wie stark ihre Gefühle für Alexander wirklich waren. »Wenn ihr euch im Januar gerade erst kennengelernt habt, wieso habt ihr es dann so eilig mit dem Heiraten?«
»Wir haben es eigentlich gar nicht eilig«, sagte sie. »Und wenn ich mal kurz darüber nachdenken würde, würde ich sagen, dass das alles total verrückt ist. Wir kennen uns ja kaum.« Es gab also Grund zur Hoffnung. »Aber so läuft das anscheinend, wenn das erste Date auf einer Hochzeit stattfindet.«
»Du hast ihn spontan gleich zu der Hochzeit mitgenommen?« Dieser Alexander hatte vielleicht ein Glück. Ich hatte es nicht mal geschafft, nach ihrer Telefonnummer zu fragen.
»Es war eine von den Feiern, auf die man das ganze Dorf einlädt«, erklärte sie. »Die Familie des Bräutigams lebt schon seit Jahrhunderten dort, und er wurde fast vom gesamten Dorf durch die gewundenen Gässchen auf einen Hügel hinaufbegleitet, wo ihn die Braut an einem fünfhundert Jahre alten Brunnen erwartete. Auf dem Wegdahin machte mir Alexander den Antrag. Ich dachte zuerst, er macht Witze. Aber schon am nächsten Tag hat er mir einen Ring gekauft. Nimmst du das eigentlich auf?«
»Häh?«
»Du schreibst gar nicht mit, deshalb dachte ich …«
Huch! »Ist alles hier oben gespeichert.« Ich tippte mir an den Kopf.
»Du merkst dir wirklich jedes Wort, das ich sage?«
Sie hatte ja keine Ahnung.
»Nicht schlecht«, sagte sie, verschränkte die Hände hinter dem Rücken und dehnte die Arme.
»Ich verstehe aber immer noch nicht so ganz, wieso ihr so eine kurze Verlobungsphase hattet«, sagte ich. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass sie mir etwas verheimlichte.
Sie zog ausweichend die Schultern hoch, aber das war anscheinend nur Teil ihrer Aufwärmübungen. »Alexander meinte, wenn wir sowieso heiraten, können wir es doch auch gleich tun und nicht erst noch ein Jahr unseres Lebens mit der Planung verschwenden. Und das sehe ich genauso. Ich schiebe Dinge nicht gern auf, sondern mache sie lieber gleich. Ich habe immer Angst, dass mir sonst etwas dazwischenkommt.«
Es war also eher Alexanders Idee. Oder vielleicht auch Genevieves. »Alexander und seine Mutter sind sehr …« Ich suchte nach dem richtigen Wort. »… sie stehen sich sehr nah.«
»Ja, toll, nicht?«, sagte Melinda begeistert. Das war nun nicht unbedingt das, was ich hören wollte. »Total beneidenswert.« Ein undefinierbarer Ausdruck huschte über ihr Gesicht, und sie drehte sich zur Seite. Vielleicht fand sie Alexanders und Genevieves Beziehung doch nicht so umwerfend, wie sie vorgab. Wieder ertönte eine Trillerpfeife. »Jetzt geht’s los, lass uns fliegen!«, rief sie.
Nach einer kurzen Einführung (Zusammenfassung: Das Trapez möglichst nicht loslassen.) wurden wir in das Gurtsystem geschnallt, das ziemliche Ähnlichkeit mit einem Gewichthebergürtel hatte, der an mehreren Seilen festgehakt war. Und schon kletterten wir die Aluleiter hinauf wie abenteuerlustige Marionetten.
Verglichen mit meinem Stunt von vorhin würde das hier ein Kinderspiel werden, dachte ich noch. Und dann sah ich kurz runter und bekam ernsthaft Höhenangst. Es fühlte sich an wie Turmspringen – nur ohne den Turm. Ich freute mich zwar ein bisschen auf das Fliegen, das vor mir lag, aber mir wurde leider auch richtig übel. So ziemlich genau die Reaktion, die ich auch immer auf einem Sprungturm habe, weshalb ich schon seit Jahrzehnten auf keinem mehr war. Seitdem ich acht war, verzichtete ich lieber auf Spaß, wenn dieser ganz offensichtlich mit Schmerzen verbunden war. Darüber sollte ich vielleicht bei Gelegenheit mal in Ruhe nachdenken.
Melinda sah mir meine Bedenken an. »Du musst das nicht machen, wenn du nicht willst«, sagte sie und sah über die Schulter nach unten. »Ich bin bei meinem ersten Mal vor Angst fast gestorben.«
In ihren Augen als Loser dazustehen war das Einzige, was mir wirklich Angst machte.
»Ich habe schon
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