Jeden Tag ein Happy End
so vieles verpasst, weil ich Angst hatte«, hörte ich mich plötzlich laut sagen. »Langsam habe ich das Gefühl, Angst ist ein anderes Wort für Sehnsucht.«
Wieso hatte ich das gerade gesagt? Ich hatte diesen Satz noch nicht mal für mich selbst zu Ende gedacht, für die Öffentlichkeit war er gleich gar nicht bestimmt. Melinda sah mich an, als hätte sie mich gerade dabei erwischt, wie ich im Stehen pinkelte. Dann kletterte sie weiter nach oben.
Was hatte ich hier verloren? Dachte ich wirklich, wir würden uns näherkommen, indem ich sie über ihren Verlobten ausfragte? Vollkommen absurd. Und masochistisch. Ich hatte auf dieser Silvesterparty keinen besonderen Eindruck auf sie gemacht. Ich sollte von dieser Leiter runter, kalt duschen, und dann dafür sorgen, meinen Job nicht zu verlieren. Die Abfindung zu nehmen und einfach zu gehen war keine Option für mich, man hatte mir nämlich lediglich angeboten, meinen Resturlaub als bezahlten Urlaub zu nehmen. Diese Erniedrigung war aber nur halb so schlimm wie die Tatsache, dass sich die Gerüchte immer mehr häuften, sie würden den kompletten Hochzeitsteil streichen. Renée hoffte, dass uns unsere Beliebtheit bei den Lesern schützen würde. Das hatte dem Team von der Verlobungskolumne jedoch auch nichts geholfen, die ’87 nach dem Börsencrash gestrichen wurde.
Die Trillerpfeife ertönte ein zweites Mal, und wie abgesprochen hielt ich an. Sekunden später sauste Melinda durch die Luft wie ein anmutiger Engel, grazil und stark. Sie hob die Beine über die Trapezstange, hielt sich damit fest, löste die Hände vom Trapez und schwang kopfüber hin und her. Vor und zurück, vor und zurück, ihre Haare wehten wie ein Heiligenschein aus weichen Locken. Dann ließ sie sich von der Stange gleiten und sprang gekonnt mit einem doppelten Salto in das trampolinartige Netz fast zehn Meter unter uns.
Wieder ein Pfiff, jetzt war ich an der Reihe. Ich stand dort auf der winzigen Plattform in unvorstellbarer Höhe und am liebsten hätte ich mich zurück an meinen Schreibtisch gebeamt. Dicht neben mir stand der Kursleiter, von Haus aus Akrobat, in zehn Meter Tiefe unter uns erst das rettende Netz.
Er reichte mir die Trapezstange. Sie war schwerer, alsich erwartet hatte und riss mich nach vorn, aber der Leiter hielt mich sicher an meinen Gurten fest. »Ich hab dich«, sagte er. So viel zu meinem Alter Ego Superman.
»Spring!«, sagte er. Ich sah nach unten. Keine gute Idee. Ich war wie gelähmt. Es war wie vorhin auf Melindas Feuerleiter, nur dass ich diesmal vom Gebäude wegspringen sollte.
»Hochsehen, nicht runter«, sagte der Leiter. Toller Tipp. Aber am anderen Ende der Halle war ein großes Fenster, und man konnte Wasser sehen und den Himmel und die Sonne … »Spring!«
Und ich sprang.
Und ich flog. Nicht so grazil wie Melinda, aber immerhin schaukelte ich tatsächlich an der Stange hin und her. Ich holte mit den Beinen Schwung, wurde schneller und flog höher. Ich fühlte mich wie der glücklichste Fünfjährige auf der ganzen Welt.
Ich ließ mich in das Netz fallen, federte ein paarmal auf und ab und kletterte dann über den Rand. Es war seltsam, wieder auf dem Boden zu stehen. Ich fühlte mich wackelig auf den Beinen und etwas schwindelig. Melinda saß auf einer Matte. Ich ließ mich neben sie plumpsen. Sie empfing mich mit einem Lächeln. Es war wohl doch noch nicht alles verloren.
»Ich habe noch mal darüber nachgedacht«, sagte sie. »Ich glaube nicht, dass unsere Angst von unserer Sehnsucht kommt.«
Ich hatte eigentlich gehofft, sie hätte meinen kleinen Ausflug in die Pseudopsychologie von vorhin vergessen. »Du, ich weiß selbst nicht genau, was ich damit sagen wollte. Wahrscheinlich habe ich schon unter akuter Höhenkrankheit gelitten.«
»Ich schulde dir eine bessere Antwort, was mich undAlexander angeht.« Alexander war wirklich der Letzte, über den ich mich im Moment mit ihr unterhalten wollte. »Als ich zehn Jahre alt war, wurde bei meiner Mutter Brustkrebs diagnostiziert«, sagte sie. Sie hielt ihre Knie mit den Armen umschlungen. »Sie ist gestorben, als ich zwölf war.«
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. »Das tut mir leid« klang so banal. »Wie ging’s dir damals damit?«, fragte ich und dachte sofort, »das tut mir leid« wäre wohl doch die bessere Wahl gewesen.
»Es war schrecklich für mich«, antwortete sie. »Lieb, dass du fragst. Im Ernst. Das fragt nie jemand. Alle wollen immer so nett sein, was dieses Thema angeht, aber
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