Jeden Tag, Jede Stunde
geht eine Krankenschwester suchen. Ana hält Luka fest an der Hand und führt ihn zu einer Sitzreihe. Orangefarbige Plastikstühle. Luka sieht sich um. Es ist das neue Krankenhaus. Nicht dasjenige, in dem Dora und er stundenlang Patienten gespielt haben, ohne Termin und ohne Beschwerden. Eine Zeitmaschine will er haben.
»Ana, Luka!«
Toni ruft leise und macht wilde Handbewegungen. Sie stehen auf und folgen ihm. Ein paar Gänge weiter bleiben sie vor einem Zimmer stehen, und Toni zeigt mit dem Kopf auf die Tür.
»Klara ist im Kreißsaal, aber Zoran ist hier drinnen.«
Sie gehen hinein. Zoran liegt auf dem Krankenbett und schläft. Luka lächelt. Ana sieht ihn an und lächelt auch. Die Zeit der Zärtlichkeit. Es gibt nur einen Stuhl im Raum, und Ana setzt sich darauf. Toni stellt sich hinter sie. Luka lehnt sich an die Fensterscheibe. Das Meer ist nicht zu sehen. Das Hotel ist nicht zu sehen. Nichts, was wichtig ist, kann Luka sehen, und er bekommt wieder Angst. Er wird unruhig und stößt dabei ans Bett. Zoran öffnet die Augen. Niemand sagt etwas. Es ist das große Warten, bei dem der Vater seinen Sohn nur ansieht, als wäre der Sohn ein Rätsel, das zu lösen ist, bevor es Mitternacht schlägt. Sonst verwandelt sich die Kutsche in den Kürbis zurück. Es ist aber schon fast vier Uhr. Es ist schon beinahe hell im Osten, hinter den hohen Bergspitzen, die der Sonne als ein Paravent dienen. Die Zeit ist um. Nichts mehr kann man ändern. Keine Rätsel können gelöst werden. Sie werden rätselhaft bleiben.
»Das dauert aber lange«, sagt Toni, der mit Schweigen nicht gut umgehen kann.
»Ja.« Zoran dagegen glaubt, dass weniger Worte mehr sind.
»Es ist schon Stunden her, oder?«
»Ja.«
»Was hat der Arzt gesagt?« Endlich hilft Ana ihrem Freund.
»Ich weiß nicht. Zuerst war kein Arzt da, dann ist eine Hebamme gekommen, sie hat sie nur angesehen, nicht untersucht, und dann haben sie sie abgeholt.«
»Das war alles? Keiner hat was gesagt?«
»Ja. Nein.«
»Hast du nicht gefragt?« Ana muss sich über ihren Vater wundern.
»Ich bin eingeschlafen.«
»Soll ich mich erkundigen?« Ana fragt Luka, der weiterhin aus dem Fenster schaut und nach seinem Leben sucht. Er sagt nichts. Es geht ihn nichts an. Auch wenn er Klara das Versprechen gegeben und sich ihr gegenüber verpflichtet hat. Man kann sein Leben auch von außen betrachten und staunen, wie sich alles entwickelt und was für Fehler man gemacht hat. Ja, das kann man. Abstand gewinnen ist gut, wird empfohlen. Ganz und gar wegzugehen ist dagegen gefährlich und nicht ratsam.
»Luka!«
Luka schenkt Ana einen auf Abstand gegangenen Blick und sagt nichts.
»Ja, geh, mein Kind.« Zoran will immer schlichten.
Ana steht auf und geht langsam hinaus.
»Es dämmert schon.«
»Ja«, sagt Luka und sucht weiter.
Dora erwacht jäh mit einem Druck auf der Brust, sie kann kaum atmen und ihr Herz pocht wild. Ihr Kopf ist erfüllt von Bildern toter Menschen, die sie nicht kennt, die sie aber bedrängen und den Kreis um sie enger ziehen, sodass sie sich nicht mehr bewegen kann. Sie öffnet die Augen und stößt einen leisen Schrei aus. Sie ist allein. Das Bett ist kalt, und sie zittert. Die Decke bis zum Kinn ziehend, dreht sie sich auf die andere Seite, um durch die offene Balkontür das Meer sehen zu können. Traumhaft. Sie beruhigt sich und schläft wieder ein. Auf bessere Träume hoffend.
»Es ist ein Mädchen.«
Ana weint und lacht und sie umarmt Luka und Toni und ihren Vater und wieder Luka und sie hüpft im kleinen Krankenhauszimmer herum und klatscht und macht Pirouetten und ist nicht aufzuhalten. Zoran bekommt feuchte Augen und wiederholt einige Male, »Ein Mädchen, ein Mädchen«, und sein Lächeln ist voller Erinnerungen und er klopft Luka kräftig auf die Schulter und lächelt weiter, »ein Mädchen«. Toni grinst mit, klopft Luka auf die andere Schulter und versucht nicht einmal, Ana zu beruhigen.
»Ein Mädchen«, flüstert Luka und verlässt das Zimmer. Langsam, aber sicher. Als hätte er gefunden, wonach er gesucht hat. Mit den ersten Sonnenstrahlen.
22
»Was machst du denn hier? Bist du nicht erst am Nachmittag dran?«
Luka geht an der Rezeption vorbei und sagt nichts, winkt nur kurz, ohne zu lächeln. Seltsam, denkt sein Freund und Kollege von der Morgenschicht und widmet sich wieder der Gästeliste.
Luka klopft an Doras Zimmertür, und sie öffnet fast zeitgleich, als hätte sie schon auf ihn gewartet. Was sie auch getan hat. Sie
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