Jeden Tag, Jede Stunde
und nach frisch gebackenen Keksen und nach Frühling. Als wären sie von einer Wolke umhüllt. Einige behaupten, sie, die Wolke, sei türkis, andere wiederum, sie sei orange. Domica, die uralte, alterslose Frau, die immer noch vor ihrem Haus am Waldrand zwischen der Riva und dem Strand sitzt, sagt, sie sei hellblau, fast weiß wie der Himmel im Sommer. Dabei nickt sie vielsagend und schließt die blinden Augen. Seit sie das Erdbeben vor dreiundzwanzig Jahren vorhergesehen hat, haben die Leute ein wenig Angst vor ihr, manche sogar Respekt, kommen aber immer wieder zu ihr, um sie nach Rat zu fragen. Besonders junge, verliebte Frauen. Domica hofft, dass auch Dora sie bald besuchen kommen wird. Sie behauptet, genau zu wissen, was Dora zu tun hätte. Einige schwören, eine Tüte mit Doras Namen darauf in Domicas Kräuterregal gesehen zu haben.
Dora wohnt schon lange nicht mehr im Hotel. Es wurde zu teuer, und sie ist noch nicht berühmt genug. Bald nach ihrer Ankunft in Makarska hat sie ihre Tante Marija besucht, die immer noch traumhaften Schokoladenkuchen backen kann und die sich gefreut hat, Dora zu sehen. Denn all diese Jahre hat Marija fast keinen Kontakt mit ihrer Cousine Helena gehabt, sodass sie auch nichts über Dora erfahren hat, über ihre Erfolge, und auch von der Trennung ihrer Eltern und Helenas neuem Leben hat sie nichts, absolut gar nichts gewusst. Dora verbringt nicht viel Zeit zu Hause, im kleinen Zimmer, das ihre Tante ihr liebenswürdigerweise zur Verfügung gestellt hat, aber Marija gibt sich mit wenig zufrieden, besser als nichts, meint sie und lächelt, und wenn Dora nicht zu Hause übernachtet, dann schimpft sie nicht mit ihr, dann zaubert sie eine Traumtorte, um sie nach Hause zu locken und dort zu behalten. Tante Marija hört auch, was die Leute erzählen, aber sie mischt sich nicht ein. Sie sieht, wie glücklich Dora ist, sie sieht, wie Lukas Augen und sein ganzes Gesicht strahlen, wenn er Dora vor dem Haus abholt. Sie kann nichts sagen, denn sie erinnert sich auch noch an die Zeit damals, als sie noch Kinder waren, Dora und Luka, und dann ist ihr alles klar, und sie sagt den Leuten nur: »Denkt an damals!«, und sie tun es, sie erinnern sich, wie wahrhaftige Elefanten, und Falten erscheinen in ihren Gesichtern, denn sie wissen nicht, wie das alles enden soll, und, was noch schlimmer für sie ist, sie wissen nicht mehr, was sie denken sollen, wer gut und wer böse ist. So bleiben die Menschen in Makarska außerordentlich beschäftigt, so etwas hat diese Stadt noch nie erlebt.
Dora kümmern sie wenig, diese Leute, sie freut sich über die Unterstützung ihrer Tante, das genügt ihr. Aber auch viele andere Menschen sind nett zu ihr. So hatte sie keine Schwierigkeiten, einen Job im Reisebüro zu finden: Sie soll französischsprachige Gäste betreuen, die sind nicht sehr zahlreich, also hat sie viel Freizeit; andererseits sind sie aber mit ihrem Trinkgeld großzügig, vor allem wenn sie erfahren, dass sie Schauspielerin und wegen Herzensangelegenheiten hier ist, sodass sie genug Geld hat. Wobei sie ja sowieso nicht viel braucht. Luka und der Schokoladenkuchen ihrer Tante genügen ihr allemal. Was gibt es schon Besseres für Leib und Seele?!
Als sie an diesem Abend, nach dem Ausflug mit Luka, nach Hause kommt, glücklich und ein wenig zerwühlt, wartet vor der Haustür eine junge Frau auf sie. Doras erster Gedanke ist: Klara. Aber dieses Fast-noch-Mädchen mit ihren hellblonden Haaren kommt ihr bekannt vor, sie erinnert sie an jemanden, an etwas, das vor unvorstellbar vielen Jahren in einem andern Leben passiert ist, sie spürt Aufregung und Wärme in sich aufsteigen, und sie lächelt, auch wenn das Gesicht der Besucherin ernst ist und ernst bleibt.
»Du bist Dora.« Keine Frage. Und sie wartet nicht auf die Antwort. »Ich bin Ana. Lukas Schwester.«
»Ana.« Natürlich! Klar! Doras erstes lebendiges Publikum. »Ana. Wie schön.«
»Da bin ich mir nicht so sicher.« Ana sagt das sehr langsam, als müsste sie über jedes einzelne Wort ausgiebig nachdenken, es erst in den versteckten Windungen ihres Gehirns finden. Als hätte sie seit ihrer letzten Begegnung auf einer einsamen Insel gelebt und wäre der Sprache, des Sprechens an sich, nicht mehr mächtig.
Dora streckt Ana die Hand entgegen, berührt sie aber nicht. Etwas ist in Anas Gesicht zu beobachten, eine tiefe Unruhe, eine gewollte Entschlossenheit, aber auch eine unterdrückte Sehnsucht. Also tut Dora nichts. Sie wartet. Ana
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