Jeder Augenblick ist ewig: Die Gedichte (German Edition)
Auseinandergehen
alles so klein wird, was Verrat war und Verdruss
und alles groß, was aus Verzauberung geschehen,
dass man die Liebe stets aufs Neue lernen muss.
Erst seit du Abschied bist, nicht mehr Beginn,
erahne ich, wie du mich immer fingst,
wenn ich verlor, was mich bestimmt und wer ich bin.
Dich lieben lernte ich erst, als du gingst,
erst seit du Abschied bist, nicht mehr Beginn.
Wo ist sie hin, die schwere, süße Tiefe
des ersten Rausches, wo die Euphorie?
Wenn sie mir einmal noch in die Umarmung liefe,
das Blut versengend, meine Fantasie
wieder zum Fliegen zwingen würde,
für Augenblicke von der Zeit befreit,
und selbst wenn man in diesen Augenblicken stürbe:
es wär das Tor entdeckt zur Ewigkeit.
Wenn sich der Rausch nur endlos steigern ließe,
von Körperenge nicht so streng bewacht,
doch scheinbar sind für uns die Paradiese
nur kurzes Wetterleuchten einer langen Nacht.
Dort aus den wohlgepflegten Parks sinken die Schatten
der Götter, die sich gern vergnügen,
an ganz bestimmten Sommertagen, fast schon matten,
dem Herbst geweihten, die so gerne lügen
als große schwarze Hände auf Fassaden
vornehmlich alter Villen, halten sich bereit,
um dann wie wild gewordene Kaskaden
die Stadt zu fluten mit der Dunkelheit,
die viele ängstlich Wolken suchen lässt,
wo schon seit Tagen keine Wolke war.
So wandelt sich auf einmal zur Gefahr,
was nichts als Abglanz ist von einem Fest
und einem Park und einer weiten Wiese.
Vermummte Wahrheit und aus einem Traum,
der sich bestimmt nicht träumen ließe
wär er nicht Wirklichkeit im Welteninnenraum.
Nur einmal noch im Rausch dorthin entrücken,
noch einmal sehen, was nicht sichtbar ist –
wie lange hab ich doch dieses Entzücken,
dies kurze Aufgehobensein vermisst.
Auf dass sich all die kargen Jahre zur Lawine ballen,
die mich der Welt entreißt, die wir verstehen.
Denn das Gedeutete will mir nicht mehr gefallen,
hab ich doch einen Herzschlag lang das Nichts gesehen,
den Urgrund allen Werdens, jeder Gärung,
woraus du dir die Schöpfung formen kannst
und deinen Himmel dir, die Gottheit und auch die Verklärung,
mit der du Rausch und Nacht und Lieb’ und Leben bannst.
Ich und Goethe
Manchmal wär ich gerne weise,
möchte mild, vor allem leise
über Idioten lächeln,
nicht mehr hinter Mädchen hecheln.
Auf der Parkbank ab und an
ein Gespräch von Mann zu Mann
oder mit den Göttern scherzen,
all die großen, kleinen Schmerzen
aus dem Körper meditieren,
Jugendliche faszinieren
und selbst diese Eitelkeiten
lässig schwebend überschreiten.
Lächelnd mit dem Sensenmann
Sechsundsechzig spieln und dann
ungeniert das Spiel verlieren
und verklärt ins Grab stolzieren.
Leider lehrt uns die Geschichte,
dass entsprechende Berichte
zwar galant die Nachwelt schmücken,
doch die Wahrheit unterdrücken.
Denkt nur an den großen Meister
Goethe, Johann Wolfgang heißt er
der begann in hohem Alter
hinter Mädchen, wie ein Falter
in den letzten Sommertagen
greisengierig herzujagen.
Werd mich also weder weise
noch behutsam oder leise,
eher jammernd, tobend, kreischend
und vor Angst ins Betttuch scheißend
weigern, zitternd um mein Leben,
meinen Löffel abzugeben.
Und man mag es kindisch nennen,
hinter Röcken herzurennen,
wenn dir schon der Zahn der Zeit
jegliche Standhaftigkeit
sportlich oder überhaupt
eigentlich nicht mehr erlaubt
und ich will auch, ganz bescheiden
jede Anmaßung vermeiden,
doch ich fürchte, diese Nöte
teile ich dereinst mit Goethe.
Auf einmal scheinen mir viele Gesichter
der Menschen so, wie ich sie niemals sah.
So manche dunkle Züge werden lichter
und andere wiederum, die früher nah
Vertraute waren, verlieren ihr Gesicht
und sind dahinter ungeformt.
Verfehltes Nichts, aus dem nichts spricht,
das sich nach jedem Gegenüber normt.
Und andre wiederum, die ich kaum angesehen,
obwohl sie schon so lange an mich glauben,
werden verwandt und kommen ins Geschehen
und haben plötzlich Wut und Stolz in ihren Augen
und werden schön, lebendiger und dichter.
Wie kann dein Blick dir doch die Welt verdrehn.
Ich wünschte mir, mein Lieben ließ mich die Gesichter
der Menschen nur in diesem Zauber sehn.
Nach der Preisverleihung
(Kurt-Tucholsky-Preis 1995)
Quäl mich seit Stunden im Hotel,
wie kommt’s, dass ich so ratlos bin,
bestimmte Augenblicke schwanden
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