Jeder Hund kann gehorchen lernen
schnapp ich mir!
Dieses moderne Märchen lässt sich in die Hundewelt übertragen: Stellen Sie sich vor, der Macho, den plötzlich a lle für eine Frau halten und der schließlich kurz davor ist, den Fahrkartenkontrolleur zu verprügeln, wäre ein Hund. Genauer gesagt: ein Rüde. Oder noch genauer gesagt: ein dominanter Rüde, der es gewohnt ist, die Oberhand zu behalten und keinem Streit a us dem Weg zu gehen. Und die Bauarbeiter, der Postbote, der rüstige a lte Herr a us dem Nachbarhaus wie a uch der Fahrkartenkontrolleur wären ebenfalls Rüden. Wie würde sich ein dominanter Rüde fühlen, wenn ihn seine Geschlechtsgenossen plötzlich wie eine Hündin behandeln und sogar versuchen, ihn zu begatten? Sprechen kann er ja nicht, und selbst wenn er es könnte, würden a uch unzählige »Ich bin ein Rüde«-Beteuerungen nichts a n der knallharten Gegendiagnose der a nderen Rüden ändern: Du riechst NICHT wie ein Rüde – a lso behandeln wir dich wie eine Hündin. Irgendwie sogar verständlich, dass der »Vom Kopf her«-Rüde, den keiner mehr für voll nimmt, öfter mal a ggressiv reagiert, oder?
Eine Kurzversion des Märchens vom Mann, der sich in eine Frau verwandelt, bringe ich immer dann, wenn ich Kunden überzeugen möchte, dass die Kastration ihres Rüden, die sie a ls Selbstverständlichkeit a nnehmen, für das Tier selbst a lles a ndere a ls Vergnügen mit sich bringt.
Tatsächlich höre ich in meinem A lltag a ls Trainer immer wieder die folgende Frage von Welpen-Besitzern: »Herr Lenzen, wann sollen wir unseren Hund kastrieren lassen?« Meine Gegenfrage: »Warum soll der Hund denn kastriert werden?« Die A ntwort, die üblicherweise kommt, lässt mich regelmäßig erschaudern: »Ja, das muss er doch!«
Muss er? Oder besser noch: Darf er? Das sinnlose, nicht medizinisch indizierte Kastrieren von Hunden ist in Deutschland gemäß § 6 A bs. 1 des Tierschutzgesetzes nämlich untersagt. Die Realität sieht leider a nders a us, denn das Gesetz beinhaltet bereits A usnahmefälle, etwa wenn die »Gefahr unkontrollierter Vermehrung« droht. Das lässt sich natürlich sehr großzügig a uslegen, sodass man das Kastrationsverbot völlig legal unterlaufen kann. Für manche Tierärzte sind Kastrationen eine durchaus willkommene Einnahmequelle.
Freie Bahn a lso für den Trend zur Kastration. A uch die folgende A nekdote (diesmal kein Märchen!) ist symptomatisch: Ungefähr fünf Monate nach der A nschaffung seines Rüden fragt mich ein Hundebesitzer, wann denn nun der richtige Zeitpunkt für die Kastration gekommen sei. »Unser Rüde ist doch so dominant und hat Ärger mit a nderen Hunden. Und der Jagdtrieb nervt uns a uch!« Mich trifft fast der Schlag. Denn gerade dieser Kunde hat vor der A nschaffung des Welpen sehr lange darüber nachgedacht, welche Rasse für ihn geeignet ist, und sich schließlich für einen Weimaraner (einen Jagdhund!) entschieden. Wie ich erst im Nachhinein erfuhr, war ein A uswahlkriterium, dass »das graue Fell so schön mit den bernsteinfarbenen A ugen harmoniert«. Ob es lieber eine Hündin oder ein Rüde werden sollte, bedachte der Kunde im Vorfeld ebenfalls fast vier Monate lang. Tenor: Eine Hündin sei zwar leichter zu führen, ein Rüde a ber einfach stattlicher und werde nicht läufig. A lso fiel die Wahl a uf einen Weimaraner-Rüden. Man kann sicher nicht behaupten, Herrchen und Frauchen hätten sich nicht a usreichend Zeit für ihre Entscheidung genommen. Umso mehr schockiert es mich, dass es – sogar in solchen Fällen – zur gängigen Praxis geworden ist, hundespezifische Verhaltensprobleme einfach wegzuoperieren. Wenn der Hund dann a us der Narkose a ufwacht – so die Vorstellung der Besitzer –, sind die Probleme, für die sie in den meisten Fällen selbst verantwortlich sind, raus- bzw. a bgeschnitten. Der Hund a ls Produkt, das möglichst den Erwartungen der Menschen entsprechen soll: sieht hübsch a us, ist lustig, pflegeleicht und macht keinen Ärger.
Wenn das mal so einfach wäre! Warum das Dominanzverhalten des Rüden nach einer Kastration häufig noch vorhanden ist oder sich sogar steigert, stellt die Halter vor ein Rätsel. Und der Hund hat Pech gehabt, weil er jetzt von intakten Rüden bedrängt wird, da er nicht mehr nach Rüde riecht. Die Erklärung ist simpel: Ein dominanter Hund, der ein, a nderthalb oder gar zwei Jahre a ls starker Rüde a uftritt, bleibt a uch nach der Kastration ein starker Rüde. Ganz einfach, weil er in dieser prägenden Phase gewisse
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