Jeder stirbt für sich allein
mitgenommen, und sie hatten doch fest ausgemacht, daß sie die Karten morgen oder übermorgen einstecken sollte. Das war nicht recht von Otto.
Irgendwas muß passiert sein mit den Karten, überlegt sie mühsam. Aber gestanden hat Otto nichts, sonst würden sie hier nicht so herumsuchen und mich ausfragen.
Sondern sie würden
Und laut fragt sie: «Warum bringen Sie denn den Otto nicht her? Ich weiß nicht, was das sein soll mit Postkarten.
Warum soll er denn Postkarten schreiben?»
Weit legt sie sich wieder zurück, den Mund und die Augen geschlossen, fest entschlossen, kein Wort mehr zu sagen.
Kommissar Escherich sieht einen Augenblick nachdenklich auf die Frau hinunter. Sie ist sehr erschöpft, das sieht er. Im Augenblick ist nichts mit ihr anzufangen. Er wendet sich kurz um, ruft zwei seiner Leute und befiehlt: «Legen Sie die Frau in das andere Bett da rüber, und dann durchsuchen Sie dieses Bett genau! Bitte, Herr Obergruppenführer!»
Er will seinen Vorgesetzten aus dem Zimmer haben, er will nicht noch eine Prallsche Vernehmung. Es ist sehr möglich, daß er diese Frau in den nächsten Tagen notwendig braucht, dann muß sie ein bißchen bei Kräften und bei klarem Verstand sein. Außerdem scheint sie zu den nicht grade häufigen Menschen zu gehören, die körperliche Bedrohung nur noch bockbeiniger macht. Mit Schlägen ist aus der bestimmt nichts rauszukriegen.
Der Obergruppenführer geht nicht gerne von diesem Weib fort. Er hätte es der ollen Nutte doch gar zu gerne gezeigt, was er von ihr hielt. Er hätte seinen Zorn über diese ganz verfahrene Klabautermanngeschichte am liebsten bei ihr ausgelassen. Aber wenn schon diese beiden Schnüffler im Zimmer waren - und außerdem: heute abend steckte das alte Biest doch im Bunker in der PrinzAlbrecht-Straße, dann konnte er mit ihr machen, was er wollte.
«Sie werden die Olle doch festnehmen, Escherich?»
fragte er in der Wohnstube.
«Gewiß werde ich das», antwortete der Kommissar und sah gedankenlos seinen Leuten zu, die mit pedantischer Gründlichkeit jedes Wäschestück auseinanderfalteten und wieder zusammenlegten, mit langen Nadeln die Sofapolster durchstachen und die Wände abklopften. Er setzte hinzu: «Aber ich muß sehen, daß ich sie erst in einen vernehmungsfähigen Zustand kriege. In diesem Fieber begreift sie alles nur halb. Sie muß erst verstehen, daß sie in Lebensgefahr ist. Dann kriegt sie Angst ...»
«Ich werde ihr schon Angst beibringen!» knurrte der Obergruppenführer.
«Nicht auf diese Art - jedenfalls muß sie dafür erst fieberfrei sein», bat Escherich und unterbrach sich: «Was haben wir denn da?»
Einer seiner Leute hatte sich mit den wenigen Büchern beschäftigt, die auf einem kleinen Regal aufgereiht waren.
Er hatte ein Buch geschüttelt, und etwas Weißes war auf die Erde geflattert.
Der Kommissar war der Schnellste. Er hob das Stück Papier auf.
«Eine Karte!» rief er. «Eine angefangene und noch nicht zu Ende geschriebene Karte!»
Und er las vor: «Führer befiehl - wir folgen! Jawoll, wir folgen, wir sind eine Herde Schafe geworden, die unser Führer auf jede Schlachtbank treiben darf! Wir haben das Denken aufgegeben .»
Er ließ die Karte sinken, er sah sich um.
Alle blickten auf ihn.
«Wir haben den Beweis!» sagte Kommissar Escherich fast stolz. «Wir haben den Täter. Er ist einwandfrei überführt, kein abgepreßtes Geständnis, nein, ein klarer kriminalistischer Beweis. Es hat sich gelohnt, so lange zu warten!»
Er sah sich um. Seine blassen Augen glänzten jetzt. Dies war seine Stunde, die Stunde, auf die er so lange gewartet hatte. Einen Augenblick dachte er an den langen, langen Weg zurück, den er bis hierher gegangen war. Von der ersten Karte an, die er noch mit lächelnder Gleichgültigkeit aufgenommen hatte, bis zu dieser, die nun in seiner Hand war. Er dachte an die anschwellende Flut der Karten, die sich ständig vermehrenden roten Fähnchen, er dachte auch an den kleinen Enno Kluge.
Wieder stand er in der Zelle des Reviers bei ihm, wieder saß er mit ihm über dem dunklen Wasser des Schlachtensees. Dann fiel ein Schuß, und er glaubte sich für sein Leben blind. Er sah sich selbst, zwei SS-Männer warfen ihn die Treppe hinunter, blutend, vernichtend, während ein kleiner Taschendieb auf den Knien herumrutschte, seine heilige Jungfrau Maria anrufend. Ganz flüchtig dachte er auch an den Kriminalrat Zott - der Arme, auch seine Theorie mit den Straßenbahnhöfen hatte sich als falsch
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