Jeffery Deaver - Der Insektensammler1.doc
schlang die Arme um Rhymes Brust, zog ihn heraus und ließ ihn zu Boden gleiten. Rhyme versuchte den Kopf zu heben, weil er sehen wollte, was los war, aber prompt bekam er einen Muskelkrampf im Nacken - eine dieser gnadenlosen Kontraktionen - und musste sich zurücksinken lassen, bis der Schmerz nachließ. Noch nie war er sich so hilflos vorgekommen wie in diesem Augenblick. Weitere Schüsse. Und wieder das irre Lachen von diesem O'Sarian.
»Hey, Messer-Lady, wo bist du?«
»Die haben uns gleich in der Zange«, murmelte Lucy.
»Wie viel Schuss?«, fragte Sachs.
»Ich hab noch drei in der Trommel. Und einen Schnelllader.«
»Mit sechs Schuss?«
»Ja.« Eine Kugel schlug in die Rückenlehne des Storms Arrow und warf ihn um. Eine Staubwolke stieg rundum auf. Lucy schoss auf O'Sarian, verfehlte ihn aber, dem schrillen Gekicher und dem Feuerstoß nach zu schließen, den er auf sie abgab. Spätestens nach diesen Schüssen wussten sie aber auch, dass sie demnächst von beiden Seiten ins Kreuzfeuer geraten würden. Hier also sollten sie sterben, zusammengeschossen werden, hier in dieser düsteren Senke, eingeklemmt zwischen Bus und Hütte. Rhyme fragte sich, wie es sich wohl anfühlen mochte, wenn die Kugeln in seinen Leib einschlugen. Schmerz würde er natürlich nicht empfinden, nicht einmal den Aufprall der Kugeln auf sein taubes Fleisch. Er warf einen Blick auf Sachs, die ihn mit hoffnungsloser Miene anschaute. Du und ich, Sachs... Dann starrte er zur Vorderseite der Hütte.
»Schau«, rief er. Lucy und Sachs folgten seinem Blick. Garrett hatte die Tür geöffnet.
»Nichts wie rein«, sagte Sachs.
»Sind Sie verrückt?«, rief Lucy.
»Garrett hält doch zu denen. Die stecken alle unter einer Decke.«
»Nein«, sagte Rhyme.
»Er hätte jederzeit vom Fenster aus auf uns schießen können. Er hat es nicht getan.« Zwei weitere Schüsse, knapp vorbei. Ein Rascheln im Gestrüpp, ganz in der Nähe. Lucy hob den Revolver.
»Nichts verschwenden!«, warnte Sachs. Doch Lucy richtete sich auf und gab zwei Schüsse ab. Ein Stein kullerte heraus, den einer der Männer in das Gestrüpp geworfen hatte, um sie abzulenken. Im nächsten Moment ging Tomels Schrotflinte los, und Lucy warf sich gerade noch rechtzeitig zur Seite, sodass der Schuss, der sie im Rücken treffen sollte, knapp vorbei ging und die Kugeln lediglich das Blech des Busses durchsiebten.
»Mist«, rief sie. Warf die leeren Hülsen aus und lud rasch nach.
»Rein«, sagte Rhyme.
»Sofort.« Lucy nickte.
»Okay.«
»Im Huckepack«, befahl Rhyme. Eine Haltung, die für einen Querschnittsgelähmten denkbar schlecht war, weil dadurch Körperteile belastet wurden, die keinerlei Belastung gewohnt waren -aber auf diese Weise ging es schneller, und Thom war nicht so lange den Schüssen ausgesetzt. Außerdem gab er Thom dadurch mit seinem Körper Deckung.
»Nein«, sagte Thom.
»Mach schon, Thom. Keine Widerrede.«
»Ich geb euch Feuerschutz«, drängte Lucy.
»Ihr drei geht rein. Seid ihr bereit?« Sachs nickte. Thom hob Rhyme hoch, nahm ihn in die Arme wie ein kleines Kind.
»Thom -«, begehrte Rhyme auf.
»Sei still, Lincoln«, schnappte der Betreuer.
»Hier geht's nach meinem Willen.«
»Los«, rief Lucy. Rhyme war nahezu taub von den Schüssen, die ringsum fielen. Alles verschwamm vor seinen Augen, als sie die Treppe hinaufrannten, auf die Hütte zu. Etliche Kugeln schlugen neben ihnen ins Holz, als sie hineinstürmten. Kurz darauf hechtete auch Lucy herein und schlug die Tür zu. Thom setzte Rhyme behutsam auf dem Sofa ab. Rhyme sah eine völlig verschreckte junge Frau, die auf einem Stuhl saß und ihn anstarrte. Mary Beth McConnell. Garrett Hanion hockte nur da, das Gesicht rot und fleckig, die Augen weit aufgerissen, schnipste hektisch mit den Fingernägeln und hatte den Revolver unbeholfen in der anderen Hand, als Lucy die Waffe auf sein Gesicht richtete.
»Gib mir die Waffe!«, rief sie.
»Sofort!« Er zuckte zusammen und reichte sie ihr augenblicklich. Sie schob sie in ihren Gürtel und rief irgendwas. Rhyme nahm nicht wahr, worum es ging er starrte auf den Jungen, sah seinen fassungslosen, furchtsamen Blick, die Kinderaugen. Und er dachte: Ich kann verstehen, weshalb du das getan hast, Sachs. Weshalb du ihm geglaubt hast. Weshalb du ihn retten musstest. Ich kann es verstehen...
»Alles gut gegangen?«, rief er.
»Bestens«, sagte Sachs. Lucy nickte.
»Eigentlich«, sagte Thom beinahe entschuldigend,
»nicht so recht.« Er hob die Hand und
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