Jeffery Deaver - Der Insektensammler1.doc
ließ sie das Einschussloch an seinem flachen Bauch sehen. Dann sank der Betreuer zusammen, fiel auf die Knie und zerriss dabei die Hose, die er heute Morgen noch so sorgfältig gebügelt hatte.
...Achtunddreißig
Die Wunde untersuchen, feststellen, ob eine Schlagader getroffen war, die Blutung stillen. Wenn möglich überprüfen, ob der Verletzte einen Schock erlitten hat. Amelia Sachs, die in New York an einem Erste-Hilfe-Grundkurs für Streifenpolizisten teilgenommen hatte, beugte sich über Thom und betrachtete die Wunde. Der Betreuer lag auf dem Rücken, war bei Bewusstsein, aber sehr blass und schwitzte heftig. Sie presste eine Hand auf die Wunde.
»Nehmen Sie mir die Handschellen ab!«, schrie sie.
»Ich kann mich so nicht um ihn kümmern.«
»Nein«, sagte Lucy.
»Herrgott«, murmelte Sachs und untersuchte Thoms Bauch, so gut sie es mit den Fesseln konnte.
»Wie geht's dir, Thom?«, rief Rhyme.
»Rede mit uns.«
»Es fühlt sich taub an... Es fühlt sich... Es ist komisch...« Er verdrehte die Augen und verlor die Besinnung. Über ihren Köpfen krachte es. Eine Kugel schlug durch die Wand. Gefolgt von einem dumpfen Schlag, als eine Ladung Schrotkugeln die Tür traf. Garrett reichte Sachs ein Bündel Papiertaschentücher. Sie drückte sie auf das Loch in Thoms Bauch. Sie schlug ihm sacht ins Gesicht. Er reagierte nicht.
»Ist er am Leben?«, fragte Rhyme verzweifelt.
»Er atmet. Flach zwar, aber er atmet. Die Austrittswunde ist nicht so schlimm, aber ich weiß nicht, was für innere Verletzungen er hat.« Lucy schaute kurz aus dem Fenster, duckte sich.
»Warum machen die das?«
»Jim sagte mir, dass sie Schwarzgebrannten herstellen«, sagte Rhyme.
»Vielleicht hatten sie ein Auge auf die Hütte geworfen und wollten nicht, dass man sie findet. Möglicherweise haben sie hier in der Nähe auch ein Drogenlabor.«
»Vor ihnen waren zwei Männer hier - sie haben versucht, hier einzudringen«, berichtete Mary Beth.
»Sie haben gesagt, sie vernichten Marihuanafelder, aber ich glaube eher, dass sie welches anbauen. Womöglich machen die alle gemeinsame Sache.«
»Wo ist Bell?«, fragte Lucy.
»Und Mason?«
»Er wird in einer halben Stunde hier sein«, sagte Rhyme. Lucy schüttelte bestürzt den Kopf. Wieder schaute sie aus dem Fenster. Sie erstarrte, hatte anscheinend ein Ziel ausgemacht. Sie hob den Revolver, legte rasch an. Zu rasch.
»Nein, lassen Sie mich!«, schrie Sachs. Doch Lucy drückte zwei Mal ab. Ihre Miene verriet ihnen, dass sie vorbeigeschossen hatte. Sie kniff die Augen zusammen.
»Sean hat gerade einen Kanister gefunden. Einen roten Kanister. Was ist da drin, Garrett? Benzin?« Der Junge kauerte am Boden, vor Angst erstarrt.
»Garrett! Rede mit mir!« Er drehte sich zu ihr um.
»Der rote Kanister? Was ist da drin?«
»Kerosin. Für das Boot.«
»Verflucht«, murmelte Lucy.
»Die wollen uns ausräuchern.«
»Mist«, schrie Garrett. Er ging auf die Knie und starrte Lucy verzweifelt an. Sachs war anscheinend die Einzige, die wusste, was er vorhatte.
»Nein, Garrett, nicht -« Ohne auf sie zu achten, riss der Junge die Tür auf und stürmte hinaus auf die Veranda, warf sich zu Boden und huschte geduckt weiter. Kugeln schlugen hinter und neben ihm ein. Sachs hatte keine Ahnung, ob er getroffen worden war. Danach herrschte Stille. Die Männer schoben sich mit dem Kerosin näher an die Hütte heran. Sachs blickte sich in dem Zimmer um. Es hing voller Staub, den die Kugeln aufgewirbelt hatten. Sie sah: Mary Beth, die die Arme um den Leib geschlungen hatte und weinte. Lucy, in deren Augen der blanke Hass stand, die ihre Waffe überprüfte. Thom, der langsam verblutete. Lincoln Rhyme, der auf dem Rücken lag und schwer atmete. Du und ich...
»Wir müssen raus«, sagte sie so gefasst wie möglich zu Lucy.
»Wir müssen sie aufhalten. Wir zwei.«
»Die sind zu dritt, sie haben Gewehre.«
»Sie wollen die Hütte anzünden. Und uns entweder bei lebendigem Leib verbrennen oder zusammenschießen, wenn wir rauskommen. Uns bleibt nichts anderes übrig. Nehmen Sie mir die Handschellen ab.« Sie streckte die Arme aus.
»Sie müssen es machen.«
»Wie kann ich Ihnen trauen?«, flüsterte Lucy.
»Sie haben uns am Fluss einen Hinterhalt gelegt.«
»Einen Hinterhalt?«, fragte Sachs.
»Was reden Sie da?« Lucy schaute sie finster an.
»Was ich da rede? Sie haben das Boot als Lockköder benutzt und auf Ned geschossen, als er rausgeschwommen ist, um es zu holen.«
»Quatsch! Sie dachten,
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