Jeffery Deaver - Der Insektensammler1.doc
Boden werfen, schießen und sie von den Beinen holen. Sie dann aus nächster Nähe erledigen. Riskant war es dennoch. Ein, zwei Schuss könnte sie vielleicht trotzdem noch abgeben. Da fiel ihm etwas auf - der Blick, mit dem sie ihn musterte. Ein unsicherer Blick. Und er hatte den Eindruck, dass sie ihre Waffe allzu drohend auf ihn gerichtet hatte. Sie bluffte.
»Dir ist die Munition ausgegangen«, sagte Tomel grinsend. Keine Antwort, aber ihre Miene bestätigte es. Er hob die Schrotflinte mit beiden Händen und legte auf sie an. Mit hoffnungslosem Blick schaute sie zu ihm her.
»Aber mir nicht«, ertönte eine Stimme neben ihm. Der Rotschopf! Er musterte sie. Sie ist eine Frau, sagte er sich. Die zögert bestimmt. Ich kann sie vorher kriegen. Er riss die Waffe herum. Der Revolver in ihrer Hand bäumte sich auf, und das Letzte, was Tomel spürte, war ein brennender Schlag an die Schläfe. Lucy Kerr sah, wie Mary Beth auf die Veranda getorkelt kam und ihnen zurief, dass Culbeau tot war. Rhyme und Garrett seien aber unversehrt. Amelia Sachs nickte und ging dann zu Sean O'Sarian. Lucy nahm sich Harris Tomel vor. Sie bückte sich und ergriff mit zitternden Händen die Browning-Schrotflinte. Eigentlich, dachte sie, müsste mir davor grauen, einem Toten die Waffe zu entwinden, eine so wunderbare Waffe zudem, gleichzeitig aber will ich sie unbedingt haben. Sie fragte sich, ob sie noch geladen war. Das ließ sich leicht feststellen. Sie lud einmal durch - vergeudete damit zwar eine Patrone, überzeugte sich zugleich aber auch davon, dass eine neue in der Kammer war. Rund fünfzehn Meter weiter beugte sich Sachs über O'Sarian und durchsuchte ihn, den Revolver auf die Leiche gerichtet. Lucy fragte sich, weshalb sie sich die Mühe machte, aber vermutlich, stellte sie spöttisch fest, handelte es sich mal wieder um die übliche Vorgehensweise. Sie suchte ihre Bluse und zog sie wieder an. Sie war zwar von Schrotkugeln zerfetzt, aber in dem engen T-Shirt genierte sie sich zu sehr. Lucy stand neben dem Baum, schwer atmend wegen der Hitze, und betrachtete Sachs' Rücken. Nur noch Zorn - weil ich in meinem Leben so oft im Stich gelassen und verraten worden bin. Von meinem Körper, von meinem Mann, von Gott. Und jetzt von Amelia Sachs. Sie warf einen Blick nach hinten, dorthin, wo Harris Tomel lag. Von da aus hätte er Amelias Rücken genau im Visier haben können. So ließe sich die Sache jederzeit erklären - Tomel hatte sich im hohen Gras versteckt, war aufgestanden und hatte Sachs mit seiner Schrotflinte erschossen. Danach hatte sich Lucy Sachs' Waffe geschnappt und Tomel getötet. Niemand würde je erfahren, dass es anders gewesen war - außer ihr und vielleicht dem Geist von Jesse Corn. Lucy hob die Schrotflinte, die sich so leicht anfühlte wie die Blüte eines Rittersporns. Schmiegte die Wange an das glatte, wohlriechende Holz, müsste daran denken, wie sie seinerzeit, kurz nach der Brustamputation, ihr Gesicht an die verchromten Gitterstäbe des Krankenhausbettes gedrückt hatte. Sie richtete den blanken Lauf auf das schwarze T-Shirt der Frau, zielte genau auf ihr Rückgrat. Sie würde schmerzlos sterben. Und schnell. Genauso schnell wie Jesse Corn. Hier ging es um nichts als schlichte Vergeltung - um Schuld und Sühne. Lieber Gott, gib mir freie Schussbahn auf meinen Judas. Lucy blickte sich um. Keine Zeugen. Sie legte den Finger um den Abzug, krümmte ihn. Kniff die Augen zusammen und richtete das Korn mit ruhiger Hand aus, denn sie war kräftig, dank der jahrelangen Gartenarbeit und weil sie sämtliche Arbeiten, die im Haus anfielen, selber erledigen musste - ganz allein. Zielte mitten auf Amelia Sachs' Rücken. Der heiße Wind strich durch das Gras rundum. Sie musste an Buddy denken, an ihren Arzt, an ihr Haus und den Garten. Lucy senkte die Waffe. Sie leerte das Magazin, stützte den gepolsterten Kolben auf die Hüfte, sodass die Mündung nach oben gerichtet war, und ging zu dem Bus, der vor der Hütte stand. Sie legte die Flinte auf den Boden, suchte ihr Handy und rief die Staatspolizei an. Der Rettungshubschrauber traf zuerst ein, und die Sanitäter luden Thom sofort ein und flogen ihn zum Klinikum. Einer blieb zurück und kümmerte sich um Lincoln Rhyme, dessen Blutdruck gefährlich hoch war. Die Staatspolizisten, die ein paar Minuten später mit einem zweiten Hubschrauber eintrafen, nahmen Amelia Sachs zuerst fest, fesselten ihr die Hände auf den Rücken und ließen sie auf dem heißen, blanken Boden vor der
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