Jeffery Deaver - Der Insektensammler1.doc
Stuhl geredet hast?« Er nickte unsicher.
»Du hast gesagt, wie schlimm es für dich war, dass er dich an diesem Abend nicht ins Auto lassen wollte.«
»Ich erinnere mich.«
»Aber du weißt doch, wieso er dich nicht reingelassen hat... Er wollte dir das Leben retten. Er hat gewusst, dass Gift im Auto war und dass sie alle sterben würden. Wenn du eingestiegen wärst, wärst du ebenfalls gestorben. Und das wollte er nicht.«
»Ich glaube, das ist mir schon klar«, sagte er. Er klang unsicher. Vermutlich, dachte Sachs, ist es alles andere als einfach, wenn man die eigene Geschichte neu schreiben muss.
»Vergiss es nicht.«
»Bestimmt nicht.« Sachs blickte auf den kleinen beigefarbenen Schwärmer, der im Vernehmungsraum herumflog.
»Hast du irgendwas in meiner Zelle hinterlassen? Damit ich Gesellschaft habe?«
»Ja, hab ich. Zwei Glückskäfer - Marienkäfer heißen sie eigentlich. Außerdem einen Grashüpfer und eine Schwebfliege. Klasse, wie die fliegen. Man kann ihnen stundenlang zusehen.« Er stockte.
»Mir tut's irgendwie Leid, dass ich Sie angelogen hab. Die Sache ist die - wenn ich's nicht getan hätte, wär ich niemals rausgekommen und hätte Mary Beth nicht retten können.«
»Ist schon gut, Garrett.« Er schaute zu Mason.
»Kann ich jetzt gehen?«
»Ja.« Er ging zur Tür, drehte sich noch einmal um.
»Ich schau wieder vorbei und treib mich draußen rum. Wenn's Ihnen Recht ist.«
»Das wäre schön.« Er spazierte hinaus, und durch die offene Tür konnte Sachs sehen, wie er zu einem Geländewagen ging. Es war Lucys Auto. Sachs sah, wie sie ausstieg und ihm die Tür aufhielt - wie eine Mutter, die ihren Sohn vom Fußballtraining abholt. Dann fiel die Gefängnistür ins Schloss.
»Sachs -«, setzte Rhyme an. Doch sie schüttelte den Kopf und schlurfte zurück zu ihrer Zelle. Sie wollte weg von Rhyme, weg von dem Insektenjungen, weg aus der Stadt ohne Kinder. Sie wollte allein sein mit ihren düsteren Gedanken. Und bald war sie es. Ein Stück außerhalb von Tanner's Corner führt die Route 112, die an dieser Stelle noch zweispurig ist, in einer Kurve am Paquenoke vorbei. Unmittelbar neben dem Bankett wachsen dichtes Ravennagras, Schilf, Indigo und hohe Akelei, deren unverwechselbare rote Blüten wie Flaggen leuchten. Die Pflanzen bilden ein natürliches Versteck, das vor allem bei den Deputys des Paquenoke County beliebt ist. Sie sitzen dort in ihren Streifenwagen, trinken Eistee, hören Radio und warten, bis ihre Radargeräte anzeigen, dass jemand mit 54 Meilen pro Stunde oder mehr vorbeigefahren ist. Dann jagen sie auf die Schnellstraße, verfolgen den verdutzten Raser und bessern die Bezirkskasse um weitere hundert Dollar auf. Als an diesem Tag, einem Sonntag, ein schwarzer Lexus SUV an dieser Stelle vorbeifuhr, zeigte das Radargerät auf Lucy Kerrs Armaturenbrett zulässige vierundvierzig Meilen pro Stunde an. Doch sie legte den Gang ein, schaltete das Blinklicht an und raste hinter dem allradgetriebenen Fahrzeug her. Sie hängte sich dicht hinter den Lexus und musterte den Wagen genau. Sie hatte sich schon vor langem angewöhnt, in den Rückspiegel der Autos zu blicken, die sie anhalten wollte. Man schaut dem Fahrer in die Augen und bekommt ein ziemlich gutes Gespür dafür, ob er sich außer Geschwindigkeitsübertretung oder einem kaputten Rücklicht womöglich noch weitere Vergehen hat zu Schulden kommen lassen. Drogen, gestohlene Waffen, Alkohol. Man bekommt ein Gespür dafür, wie gefährlich es werden könnte, wenn man ihn anhält. Jetzt sah sie, wie der Mann vor ihr in den Rückspiegel blickte und sie ohne jedes Schuldbewusstsein, ohne jede Sorge betrachtete. Ein selbstsicherer, unverzagter Blick... Was ihre Wut nur noch mehr schürte, sodass sie tief durchatmen musste, um sich zu beherrschen. Der schwere Wagen rollte aufs Bankett, und Lucy hielt hinter ihm an. Laut Vorschrift hätte sie die Nummer durchgeben und sich erkundigen müssen, ob gegen den Fahrer etwas vorlag und ob er die Kfz-Steuer bezahlt hatte, doch damit hielt sich Lucy nicht auf. Die Auskunft der Kraftfahrzeugzulassungsstelle interessierte sie nicht im Geringsten. Mit zitternden Händen öffnete sie die Tür und stieg aus. Jetzt blickte der Fahrer in den Seitenspiegel, musterte sie weiterhin ungerührt. Er wirkte lediglich etwas verdutzt, vermutlich weil er feststellte, dass sie keine Uniform trug - nur Jeans und ein Arbeitshemd -, aber ihre Waffe umgeschnallt hatte. Weshalb hielt eine Polizistin außer Dienst einen
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