Jeffery Deaver - Der Insektensammler1.doc
hoch, goss sie und flüsterte ihnen ermutigend zu, als spräche sie mit den Kindern, die Buddy und sie - davon war sie felsenfest überzeugt - eines Tages gehabt hätten. Manchmal, wenn sie dienstlich im Landesinneren unterwegs war, einen Strafbefehl zustellte oder sich erkundigte, wieso jemand einen Honda oder Toyota in seiner Garage versteckte, der eigentlich jemand anderem gehörte, entdeckte Lucy eine junge Pflanze, die sie, nachdem die polizeiliche Arbeit erledigt war, ausgrub und wie ein Findelkind mit nach Hause nahm. Auf diese Weise war sie an ihr Salomonssiegel geraten. Und auch an einen Virginischen Aronstab. Und einen prachtvollen Bastard-Indigo, der unter ihrer Obhut fast zwei Meter hoch gewachsen war. Jetzt schweifte ihr Blick über die Gewächse, an denen sie auf ihrer Verfolgungsjagd vorbeikamen: ein Holunderstrauch, eine Bergstechpalme, Ravennagras. Sie sah eine hübsche Nachtkerze, dann einige Rohrkolben und Wildreis - größer als jedes Mitglied des Suchtrupps und mit messerscharfen Blättern. Und hier war eine Squawwurzel, eine Schmarotzerpflanze. Lucy kannte sie auch unter einem anderen Namen: Krebswurzel. Sie warf einen Blick darauf und wandte sich dann wieder der Spur zu. Der Pfad führte zu einem steilen Hang - eine Reihe von Felsen, etwa fünf Meter hoch. Lucy kletterte mühelos hinauf, aber oben blieb sie stehen. Nein, dachte sie, hier stimmt was nicht. Neben ihr stieg Amelia Sachs auf das Plateau, hielt inne. Kurz darauf tauchten Jesse und Ned auf. Jesse atmete schwer, doch Ned, ein Schwimmer und Naturmensch, schaffte den Hang spielend.
»Was ist los?«, fragte Amelia, als sie Lucys gerunzelte Stirn bemerkte.
»Das ist einfach unsinnig. Dass Garrett sich in diese Richtung hält.«
»Wir sind dem Pfad gefolgt, genau wie Mr. Rhyme es uns befohlen hat«, sagte Jesse.
»Es ist das einzige Kieferngehölz, auf das wir gestoßen sind. Garretts Spuren haben in diese Richtung geführt.«
»Haben sie auch. Aber wir haben sie schon seit einer ganzen Weile nicht mehr gesehen.«
»Wieso glauben Sie nicht, dass er hier vorbeigekommen ist?«, fragte Amelia.
»Sehen Sie mal, was hier wächst.« Sie deutete nach vorn.
»Immer mehr Sumpfpflanzen. Und nun, da wir auf dieser Anhöhe sind, können wir das Gelände besser erkennen - es wird ganz schon moorig. Komm schon, denk mal nach, }esse. Wo kommt Garrett denn da hin? Wir halten genau auf den Great Dismal zu.«
»Was ist der Great Dismal?«, fragte Amelia.
»Ein riesiger Sumpf, der größte an der ganzen Ostküste«, erklärte Ned.
»Dort gibt's nirgendwo Schutz, keine Häuser, keine Straßen«, fuhr Lucy fort.
»Er könnte sich allenfalls nach Virginia durchschlagen, aber das dauert Tage.«
»Und um diese Jahreszeit«, fügte Ned Spoto hinzu,
»kann man sich noch so mit Insektenschutzmittel einschmieren, man wird trotzdem bei lebendigem Leib aufgefressen. Von den Schlangen gar nicht zu sprechen.«
»Gibt's hier in der Gegend irgendwas, wo sie sich verstecken könnten? Höhlen? Häuser?« Sachs blickte sich um.
»Höhlen nicht«, sagte Ned.
»Ein paar alte Gebäude vielleicht. Aber die Sache ist die, dass sich der Grundwasserspiegel verändert hat. Der Sumpf breitet sich in diese Richtung aus, und eine Menge alter Häuser und Hütten sind schon versunken. Lucy hat Recht. Wenn Garrett in die Richtung gegangen ist, kommt er nicht weit.«
»Ich glaube, wir sollten umkehren«, sagte Lucy. Sie dachte, Amelia würde sie wegen dieses Vorschlags angiften, doch die Frau holte nur ihr Handy heraus und telefonierte.
»Wir sind in dem Kiefernwald, Rhyme«, sagte sie.
»Einen Pfad gibt's auch, aber wir haben keinen Hinweis darauf gefunden, dass Garrett hier vorbeigekommen ist. Lucy sagt, es wäre Unsinn, wenn er sich in diese Richtung hält. Sie sagt, nordöstlich von hier liegt hauptsächlich Sumpfland. Er kann dort nirgendwo hin.«
»Ich glaube, er hat sich Richtung Westen gehalten«, sagte Lucy.
»Oder nach Süden, über den Fluss zurück.«
»So könnte er nach Millerton gelangen«, warf Jesse ein. Lucy nickte.
»Zwei, drei große Fabriken in der Gegend dort wurden dichtgemacht, als die Unternehmen den Betrieb nach Mexiko verlagert haben. Die Banken haben vielen Grundbesitzern die Hypotheken gekündigt. Dort gibt's zig leer stehende Häuser, in denen er sich verstecken könnte.«
»Oder nach Südosten«, schlug Jesse vor.
»Dort würde ich hingehen - der Route 112 folgen oder den Bahngleisen. In der Richtung gibt's ebenfalls einen Haufen
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