Jeier, Thomas
Tafelberg von Mesa Verde. In dem Gebiet, inzwischen einer der spektakulärsten Nationalparks der USA, lebten die Anasazi zwischen 550 und 1300 nach Christus Zu den imposantesten Bauten gehören das Spruce House, eines der größten Felsenhäuser mit 106 Zimmern und acht Zeremonienräumen, der Cliff Palace mit seinen über 200 Zimmern, und das Balcony House. Das Square Tower House ragt vier Stockwerke empor, der Sun Temple, diente als großes Zeremonienhaus. Richard Wetherill und Charlie Mason, zwei Cowboys, hatten die Bauten, als sie im Winter 1888 nach versprengten Rindern suchten, entdeckt.
Ihren Höhepunkt erreichte die Anasazi-Kultur im Chaco Canyon, einer zehn Meilen langen Schlucht im Nordwesten von New Mexico. Bis vor einigen Jahren gingen die Wissenschaftler noch davon aus, dass es sich bei den Städten und Siedlungen in der Schlucht um das kommerzielle Zentrum des Anasazi-Landes mit über 5000 Bewohnern handelte. Neuere Untersuchungen haben jedoch gezeigt, dass keine 2000 Menschen im Chaco Canyon wohnten, und ein Großteil der Räume in den Felsenburgen leerstand oder der Vorratsspeicherung diente. Höchstwahrscheinlich war der Chaco Canyon ein rituelles Zentrum, ein Wohnort der politischen und religiösen Elite, ein Wallfahrtsort für das gewöhnliche Volk.
Dass die Kultur der Anasazi im Chaco Canyon noch weiter als in Mesa Verde entwickelt war, zeigt sich unter anderem daran, dass die Räume in den Felswohnungen doppelt so groß wie in Mesa Verde waren - die Steinwände verputzt und teilweise mit kunstvollen Mustern verziert. Vor den Häusern waren besonders große Kivas in den Boden eingelassen, was auch ein Zeichen dafür ist, wie bedeutsam dieser Ort für die Priesterkaste war. Die massiven Decken der Räume wurden durch mächtige Balken gestützt, die aus dem Holz der 90 Meilen entfernt gelegenen Wälder gefertigt waren. Der Transport war eine erstaunliche Leistung, wenn man bedenkt, dass die Anasazi trotz ihrer hochentwickelten Kultur das Rad noch nicht kannten.
Das am meisten beeindruckende Zeugnis ihrer Baukunst ist Pueblo Bonito, dessen Ruinen noch heute im Chaco Canyon stehen. Fünf Stockwerke ragten die massiven Wände des Komplexes empor, mehr als eine Million Steinquader verarbeiteten die Baumeister für das riesige Haus, das um etwa 1100 nach Christus entstand, und über 1000 Menschen sollen in dessen 800 Räumen gewohnt haben. Acht weitere Wohnpaläste entstanden etwa zur gleichen Zeit. Ein verzweigtes System von Kanälen versorgte die umliegenden ausgedehnten Felder mit Wasser. Ein Netz von breiten Straßen dehnte sich nach allen Seiten hin aus.
Die Siedlungen im Chaco Canyon waren wohlhabende Zentren inmitten der Wüste und sichtbares Zeichen einer Kultur, die keinen Vergleich mit den Hochkulturen Ägyptens oder Mittelamerikas zu scheuen brauchte. Umgeben von einfachen Ackerbauern, Jägern und Sammlern entwickelten sich die Anasazi zu einem kulturell hochstehenden Volk, das sich deutlich von den anderen Kulturkreisen Nordamerikas abhob. Zurückzuführen war diese Entwicklung mit ziemlicher Sicherheit auf einen regen Kulturaustausch und feste Handelsbeziehungen mit mesoamerikanischen Hochkulturen. In den Legenden der Anasazi wird von hochgewachsenen Männern aus dem Süden berichtet, die mit handwerklichen Gegenständen aus Metall in den Chaco Canyon kamen, und edel gekleidete Boten sollen bunte Muscheln von der fernen Küste gebracht haben. Von einem goldenen Zeitalter, das von außerordentlichem Wohlstand geprägt war, ist die Rede.
Jahrzehntelang hielten Wissenschaftler eine Verbindung zwischen den Anasazi und den mesoamerikanischen Hochkulturen für unwahrscheinlich. Dabei bewiesen allein die archäologischen Funde, dass es zu regelmäßigen Begegnungen zwischen den beiden Völkern gekommen sein musste. In den Ruinen fand man Statuen, Pfeifensteine, Muscheln, geschnitzte Flöten, gemusterte Decken, Kupferglocken und Federn von Aras und Papageien, Gegenstände deren Herkunft nach Mittelamerika deuten und Begegnungen mit Völkern in Mesoamerika nahelegten. Der Sun Dagger, der auch den Mondzyklus sichtbar macht, könnte seinen Ursprung bei den Maya und Tolteken haben. Wie sonst hätten es die Anasazi wohl schaffen können, innerhalb weniger Jahrhunderte das Niveau der Steinzeit hinter sich zu lassen? Wie hätten sie es ohne fremde Hilfe und Einfluss fertigbringen können. eine Hochkultur zu entwickeln, die zwar weder Rad noch Schrift kannte, aber sehr wohl in der Lage war, riesige
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