Jeier, Thomas
Zeitberechnung nicht mehr gegeben war.
Die Sonne, die höchste Gottheit der mesoamerikanischen Kulturen, wurde auch für die Anasazi und ihre Nachbarn zum bestimmenden Element. Ihre Macht war schier unermesslich und den anderen Himmelskörpern, die ebenfalls als »wandernde Götter« über das Firmament zogen, weit überlegen. Die Priester und Schamanen ließen sie keinen Tag unbeobachtet, hielten Zeremonien zu ihren Ehren ab. Allerdings verzichteten sie auf die grausamen Menschenopfer, die bei den mittelamerikanischen Hochkulturen unerlässlich für den Fortbestand des Lebens waren. Warum sie darauf verzichteten, lässt sich nicht erklären. Die Menschen lebten in der ständigen Angst, die Sonne könnte am kürzesten Tag des Jahres ganz vom Himmel verschwinden, und versöhnten sie mit einer Vielzahl von Gebeten, Liedern und rituellen Handlungen, die vor allem die lebenswichtige Ernte garantieren sollte.
Die kulturellen Verbindungen zwischen Mesoamerikanern und Anasazi waren so stark, dass sogar die Behauptung aufgestellt wurde, die Anasazi und ihre Nachfahren, die Pueblo, wären direkte Nachkommen ihrer Nachbarn im Süden. Eine wagemutige und wenig wahrscheinliche Theorie, die bisher nicht bewiesen werden konnte. Ganz anders verhält es sich mit den Materialien und Fertigkeiten, die sie aus dem zentralen Amerika importierten: Ohne den Kontakt zu den Hochkulturen wären die Anasazi vielleicht niemals in der Lage gewesen, als Bauern in festen Dörfern zu leben. Mit dem Mais kamen Bohnen und Squash aus Mexiko, auch bei den Indianern im Norden hochgeschätztes Gemüse, das neben Fleisch und Geflügel zur Basis ihrer Ernährung wurde. Wie die Mesoamerikaner verehrten auch die Anasazi den Mais. als Grundlage des Lebens. Man ließ die heilige Pflanze in Geschichten und Liedern hochleben, malte sie auf Tonkrüge und Felswände und führte Zeremonien zu ihren Ehren durch.
Besonders auffällig waren die Parallelen zwischen Anasazi und Mesoamerikanern im Chaco Canyon. In einem Diskussionsbeitrag, den Robert und Florence Lister bereits 1981 veröffentlichten, schrieben sie: »Die Liste der mesoamerikanischen Spuren [in den Ruinen im Chaco Canyon] ist länger geworden und schließt jetzt auch architektonische Eigenheiten wie Steinmauern mit Geröllkern, rechteckige Säulen in Kolonnaden, runde Strukturen in Turm-Kivas, dreiwändige Räume, kreisförmige Sitzflächen unter den Pfosten, die das Dach halten, und T-förmige Eingänge ein.« Außerdem betonen sie, die architektonischen Einrichtungen, die im Chaco Canyon für die Beobachtung und die Aufzeichnung astronomischer Daten errichtet wurden, seien in Zentralmexiko sehr viel gebräuchlicher gewesen.
Mesoamerikanische Götter
Wie die Angehörigen der mesoamerikanischen Hochkulturen richteten auch die Anasazi den größten Teil ihrer religiösen Zeremonien nach astronomischen Berechnungen aus. Ihre Gottheiten wurden mit Himmelskörpern wie Sonne, Mond, Sternen und Planeten wie der Venus in Verbindung gebracht und gingen in Mythen und Legenden ein, die auffällige Parallelen im amerikanischen Südwesten und Mesoamerika und sogar bei den Inka in Südamerika aufwiesen. Einer der wichtigsten Götter in diesem Pantheon war Quetzalcoatl, die »Gefiederte Schlange«, deren Abbild auch auf Töpferarbeiten der späten Anasazi zu beobachten ist. J.J. Brody, ein anerkannter Archäologe und ehemaliger Direktor des Maxwell Museum of Anthropology in Albuquerque behauptet, die »Gehörnte Schlange« der Anasazi sei nichts anderes als ein Pendant der »Gefiederten Schlange« gewesen. Quetzalcoatl taucht in allen mesoamerikanischen Hochkulturen unter verschiedenen Namen auf, hieß bei den Inka Viracocha, aber auch Itzamná und Kukulcán. Seinen prominentesten Namen bekam er von den Tolteken und Azteken, weil er halb Adler und halb Schlange war: »Quetzal« bedeutet »Vogel«, »coatl« steht für »Wasserschlange«. Die beiden Tiere, der überlegene, sich in die Lüfte schwingende Vogel, und die niedere, im schmutzigen Wasser lebende Schlange, repräsentierten das Streben des Menschen nach Vollkommenheit und wurden deshalb auch einem Herrscher der Tolteken zugeschrieben, der unter demselben Namen auftrat.
Als Gott der Fruchtbarkeit war Quetzalcoatl für den Ackerbau zuständig - für die Hochkulturen in Mesoamerika die einzige Möglichkeit, in großen Siedlungen zu überleben - und wurde in zahlreichen Zeremonien und Ritualen beschworen. Als wohltätiger Gott, der schon den Tolteken das
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