Jeier, Thomas
Wohnpaläste zu bauen und einen genauen Kalender zu führen? Auch wenn manche Wissenschaftler die Beweise in ihrem Perfektionsdrang noch immer nicht für ausreichend halten, erscheint es mehr als wahrscheinlich, dass Abgesandt-e der mesoamerikanischen Hochkulturen bei den Anasazi auftauchten.
In ihrem Handbook of North American Indians betonen Richard B. Woodbury und Ezra B. W. Zubrow, die Geschichte des amerikanischen Südwestens könne man nur im Zusammenhang mit der Entwicklung der Hochkulturen in Mesoamerika verstehen, einem Gebiet, das vom heutigen Mexiko bis nach Honduras reichte. Auch Linda Cordell, eine bekannte Archäologin, kam in den 1990er Jahren zu folgendem Schluss: »Die Indianer des Südwestens entwickelten ihre kulturellen Muster durch eine Verbindung ihrer eigenen Erfindungen mit Aspekten der mesoamerikanischen Kultur. Sie übernahmen Feldfrüchte, vervollkommneten ihre Töpferkunst und passten wahrscheinlich auch religiöse Riten ihrer harschen Umgebung an.«
Im Austausch mit mesoamerikanischen Hochkulturen
Zwischen 2000 vor Christus und der Ankunft der spanischen Eroberer schufen die hoch entwickelten Völker in Mesoamerika eine Reihe von mächtigen Reichen und Stadtstaaten, die anders als bei den Anasazi von einer strenge111 Hierarchie, Menschenopfern und ständigen Kriegen geprägt waren. Riesige Pyramiden und Begräbnisstätten, in Nordamerika nur bei den Moundbuilders bekannt, wurden zu Ehren der Götter erbaut und überragten die Häuser und Felder ihrer Städte. Die Herrscherkaste, vor allem die Priester, lebten in befestigten Städten wie Teotihuacan, das mehr als 100 000 Einwohner hatte, und Tenochtitlán, das doppelt so viele Menschen beherbergte. Das einfache Volk lebte in ständiger Furcht vor dem Zorn der Priester, die sich in Tempel und Festungen zurückzogen und nicht nur Gefangene opferten, um mit den Göttern im Einklang zu bleiben.
Die Religion bestimmte das Leben der Menschen, setzte aufwändige Zeremonien und Riten an den Beginn und das Ende einzelner Zyklen im Jahr, machte vor allem den dringend benötigten Ernteerfolg von der Gunst der Götter abhängig. Hinter jedem Naturphänomen vermutete man ein Zeichen der Götter, jeder Donner. jeder Blitz, jedes. Erdbeben, jeder Vulkanausbruch bedrohte den streng geregelten Lebensrhythmus. Die Macht der Sonne als einziger Konstante war unantastbar. Himmelswanderer wie Mond, Planeten und Sterne genossen höchstes Ansehen in ihrer spirituellen Vorstellungswelt Menschenopfer sollten die übernatürlichen Kräfte beschwichtigen und eine ständige Erneuerung des Bundes mit der Natur, das Gleichgewicht der Kräfte und die Herrschaftsordnung erhalten. Mächtige Götter wie Tlaloc der Tolteken und Quetzalcoatl der Azteken konnten nur, mit Menschenopfern gütlich gestimmt werden.
Wilde Kreaturen, der Adler und die Schlange etwa, galten als heilig, schufen eine Verbindung zwischen Menschen und Göttern. Der Jaguar galt als Herrscher der Unterwelt. Mit einer Unnachgiebigkeit und Strenge, die man sonst bei keinem Indianervolk in Nordamerika findet, machten sich die Herrscher das Volk untertan. Sie hielten ihre Bürger mit rigiden Gesetzen im Zaum, ließen sie sogar Ballspiele veranstalten, deren Gewinner reich beschenkt und deren Verlierer enthauptet wurden. Durch rege Tauschbeziehungen zu ihren Nachbarn sicherten sie sich wirtschaftlichen Wohlstand und Unterstützung im Falle eines Krieges. Bis ins heutige Arizona und New Mexico, bis in die Siedlungen der Anasazi, führten ihre Handelsstraßen, heute noch sichtbar in den Felsenlabyrinthen.
Die Mesoamerikaner brachten den Anasazi unbekannte Güter wie Kupfer, Tongefäße, Textilien und Papageienfedern und tauschten sie vor allem gegen Obsidian und Türkis ein, bei den Völkern Zentralamerikas ein heiliger und äußerst wertvoller Stein. Mit den Handelswaren kamen Legenden, Mythen und Zeremonien zu den Anasazi, auch Techniken und Werkzeuge, die den Indianern in Nordamerika halfen, ihre Wohnpaläste und Kanalanlagen zu errichten. Mit ziemlicher Sicherheit lehrten die Mesoamerikaner ihre nördlichen Nachbarn auch, einen genauen Kalender zu erstellen. Der Sun Dagger half ihnen, die Jahreszeiten zu berechnen und den besten Zeitpunkt für Aussaat, Ernte und Jagd zu bestimmen. 700 Jahre lang. bis weit in die 1980er Jahre hinein, war der wandernde Lichtbalken ein verlässlicher Zeitmesser, erst dann fielen die Steinplatten der Erosion zum Opfer und bröckelten so stark ab, dass eine genaue
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