Jeier, Thomas
sich die Kraft einer Frau zu dieser Zeit besonders stark äußert, ist es am besten, wenn sie dem Mann während dieser Zeit fernbleibt. Früher errichteten sie ein besonderes Tipi für sie, und die anderen Frauen kümmerten sich um sie. Sie konnte sich von ihrer täglichen Arbeit erholen. Es war keine negative Sache, wie manche Leute heute denken. Wir taten dies aus Respekt vor dem Großen Geheimnis, aus Respekt vor den besonderen Kräften einer Frau.«
Die erste Menstruation eines Mädchens war ein besonderes Ereignis, bedeutete das Ende ihrer Kindheit und den Beginn ihres verantwortungsvollen Lebens als Frau. Einen solchen Wendepunkt verheimlichte man nicht wie die in dieser Hinsicht eher prüden Europäer der viktorianischen Epoche. Kaum hatte ein Vater bei den Cheyenne von dem Ereignis erfahren, trat er in seiner besten Kleidung vor sein Tipi und verkündete lauthals, dass seine Tochter ab sofort eine Frau sei. Zum Zeichen seiner Wertschätzung und seines Respekts vor den Kräften der Frau verschenkte er ein besonders wertvolles Pferd oder anderen Besitz. Bei einigen Stämmen waren wichtige Zeremonien mit diesem Ereignis verbunden. Während der »Sunrise Ceremony« der Apachen vereinte sich das Mädchen in Tänzen, Träumen und rituellen Wanderungen mit »White Painted Woman«, der Heidin der Schöpfungsgeschichte der Apachen und lernte aus deren spiritueller Vergangenheit für ihr zukünftiges Leben.
Die Keuschheit gehörte bei den Cheyenne- und Sioux-Frauen zu den wichtigsten Tugenden, für ihre Schüchternheit, Reinheit und Zurückhaltung waren sie weithin bekannt. »Eine Frau, die nur einmal geheiratet hat und treu ist, wird höher geschätzt als andere«, sagte Blue Whirlwind, eine Sioux-Frau. Vorehelicher Sex war ausgeschlossen, selbst der Blickkontakt mit jungen Männern gehörte sich nicht. Nach der ersten Menstruation trugen sie bei zahlreichen Plains-Stämmen einen Keuschheitsgürtel aus weichem Wildleder um ihren Unterleib, das äußere Zeichen ihrer Jungfräulichkeit, die sie sich möglichst lange erhalten wollten. Selbst nach der Hochzeit empfahl man den Mädchen, den Schutzgürtel noch ein bis zwei Wochen zu tragen, bis man sich an das eheliche Zusammensein gewöhnt habe. Ein Mann, der diesen Keuschheitsgürtel gewaltsam öffnete, machte sich eines schweren Verbrechens schuldig, das die männlichen Verwandten des Mädchens rächten. George B. Grinnell berichtete von einem Mann, der versucht hatte, einen solchen Gürtel zu öffnen. Weil alle männlichen Verwandten des Mädchens im Kampf gefallen waren, rächten sich das Mädchen und ihre Mutter an dem Mann, indem sie ihn mit schweren Steinen bewusstlos schlugen. Nachdem er zu sich gekommen war, wurde er von allen Bewohnern des Dorfes mit Verachtung gestraft.
Als etwas vollkommen Natürliches betrachteten hingegen die Pueblo vorehelichen Sex. Wenn ein Paar beschlossen hatte zu heiraten, durfte es miteinander schlafen. Auch unverheiratete Mütter hatten keine Strafe zu befürchten. Sexuelle Freizügigkeit praktizierten auch die Natchez am Mississippi-Ufer. Die jungen Frauen wetteiferten sogar miteinander: Welche die meisten Männer in ihre Hütte lockte und die meisten Geschenke sammelte, galt als besonders begehrenswert. Bei den Irokesen schlief ein junges Paar drei oder vier Nächte zur Probe miteinander, bevor es sich zur Hochzeit entschloss.
Je nachdem wie wichtig die Bewahrung der Keuschheit war, hatte dies deutlich Einfluss auf das Werben eines Kriegers. Bei den Frauen der Cheyenne oder Sioux musste er vier bis fünf Jahre warten, bis die Angebetete in eine Heirat einwilligte. In den alten Zeiten, lange vor der Ankunft der Weißen, so erzählt man sich bei den Cheyenne, war es einem jungen Mann nicht einmal gestattet, mit einem Mädchen zu sprechen. Wenn er sich für eine junge Frau interessierte, wartete er auf sie, wenn sie Wasser vom Fluss holte oder vom Beerensammeln zurückkehrte und zupfte an ihrem Kleid oder ihrer Decke. Erwiderte das Mädchen sein Interesse, blieb es stehen und unterhielt sich mit ihm. Wenn nicht, ging es weiter. Im 19. Jahrhundert war es einem jungen Mann auch gestattet, ein Mädchen zu umarmen. Zum Zeichen einer Verlobung tauschte ein Paar Ringe aus Holz, Knochen oder später Metall. Aber selbst nach einer Verlobung konnten noch einige Jahre bis zur Hochzeit vergehen.
Falsch war die Auffassung vieler Weißer, ein Krieger müsse für seine Braut bezahlen. Die Pferde, die er vor dem Tipi seiner Schwiegereltern
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